Prolog
Liebe Kathrin
Es war an einem dieser nebligen, düsteren Novembertage. Der Nebel hielt sich bereits seit Wochen hartnäckig, trübte das Tageslicht und schien alles zu verschlingen. Seine klamme Kälte liess einem bis auf die Knochen frieren. Ich ging den gewohnten Weg, den ich immer nehme, wenn ich einen Spaziergang mache, verloren in düsteren Gedanken, ohne dass ich sie wirklich wahrnahm, auch den Weg nicht, nicht die Bäume, nicht die Sträucher.
Plötzlich nahm ich etwas wahr, eine Bewegung rechts in den Gebüschen. Ich fuhr herum. Ein Reh vielleicht? Nein, es war kein Reh, ein hochgewachsener Mann zwängte sich zwischen den Zweigen einiger hier dicht stehenden Büsche hervor, trat auf den Weg, sah kurz an sich herunter und schnippte mit den Fingern kleine Aststückchen, die sich da und dort an seinem grauen Wollmantel verfangen hatten, wie mit einem Achselzucken weg.
Dann blickte er auf und sah mich geradewegs an, beugte leicht sein Haupt und zog den Hut eine Handbreit nach vorn und grüsste mich freundlich und so leichthin, nicht, als wäre er beinahe aus dem Nichts aufgetaucht, nicht, als hätte er sich durch dichtestes Gebüsch gezwängt. Was genau genommen unsinnig war, da der Wald rings herum weit und luftig ist.
«Grüss Gott», sagte er sanft, «Ich werde Euch jetzt begleiten!»
«Mich begleiten?», stammelte ich, «Ich brauch doch keine Begleitung!»
«Oh, doch! Ihr wisst nicht, wie gefährlich die Gegend hier ist!»
Ich sah mich um. Diesen Weg war ich bestimmt schon tausend Mal gegangen. Hier kannte ich mich aus. Im Frühling wachsen hier am Wegrand Einbeeren und dunkle Akeleien, später überzieht das goldgelbe Springkraut die Fläche bis zu den Bäumen, da wo das Sommerlicht hinfiel, und da vorne blühen den Sommer durch die Stauden des zartrosa blühenden Wasserdosts, welche unzähligen Insekten bis weit in den Herbst mit Pollen und Nektar anlockt. Und da drüben, den Hang hinauf, da stehen sparrige Tollkirschenstauden zuhauf.
Der Unbekannte schien meinen Blicken gefolgt zu haben, denn er unterbrach meinen Gedankengang abrupt: «Ja, genau dorthin müssen wir uns bewegen, dort, den Hügel hinauf, wo im Sommer die Tollkirschen blühen.
Du verstehst mich sicher gut, liebe Kathrin, ich war verwirrt. Irgendwie überrumpelt.
«Wieso sollte ich mit Ihnen da hinauf gehen? Da ist kein Weg, nur ein Wildwechsel. Und der führt nirgendwo hin, nur zu einem steilen Abhang. Mein Weg führt geradeaus», ich machte einen Schritt zur Seite, um meinen Weg allein weiterzugehen.
Der Unbekannte trat ein wenig näher, sah mich mit seinen graublauen Augen an, lange sehr lange. Normalerweise würde ich wegschauen. Aber in diesem Blick – ach, wie soll ich das beschreiben – war eine Milde, ein Verstehen, eine Güte. Ich blieb tief betroffen stehen. «Wer seid ihr denn?»
«Mein Name tut nichts zur Sache. Vertraut mir.»
Vielleicht nennst du mich leichtsinnig, liebe Kathrin. Doch es war diese nicht beschreibbare Milde, die seinem Wesen entströmte, dass ich ihm zunickte: «Nun gut, dann könnt Ihr mich belgeiten.»
Er nahm meinen Arm und führte mich den Wildwechsel hinan. Ich fragte nicht wohin, ich fragte nicht, weshalb es gefährlich sei.
Und wiederum schien er in mir zu lesen: «Es sind oft die Gedanken, die als Gespenster und Trolle in den Nebeln lauern.» Und als er es sagte, wurde der Nebel so dicht, dass ich kaum noch den Weg sah, den wir gingen.
Ich hörte das dunkle, laute Krächzen eines Kolkraben. Dann ein Wispern und Zischeln ringsum, bald ein Knacken und Krachen, als würde ein Baum unter seinem Gewicht ächzen. Ich hatte keine Angst.
Der Weg führte immer weiter und weiter und ich merkte, dass wir uns in einem Wald befanden, den nicht der war, den ich kannte.
Als wir so ungefähr eine Stunde oder mehr schweigend durch den Nebel gewandert waren, lichtete sich dieser und machte einem warm goldenen Leuchten statt. Ein Kuckuck rief von Ferne, ich hörte das Gebimmel von Kuhglocken, das Meckern von Schafen, das Geläut einer weit entlegenen Kirchenglocke. Als ich mich umschaute, blieb mir der Atem stehen: Der Waldboden war ein Meer von blau blühenden Elfenkrokussen, mit goldgelben Sprenkeln von eben erst erblühtem gelbem Windröschen..
Der Unbekannte blieb stehen. «Ihr könnt jetzt allein weitergehen. Einfach gerade aus. Man erwartet Euch, Ihr werdet gebraucht.»
«Aber!», wollte ich noch rufen, doch er hatte bereits rechts umkehrt gemacht und verschwand in einem Hain knorrig alter Eichen.
So ging ich weiter, durch den lichter werdenden Wald, genau wie mich der Unbekannte geheissen hatte. Noch immer war ich in einem milden Zustand der Entrücktheit.
Ich erreichte den Waldrand und blickte auf eine Landschaft, mit sanften Hügeln, die im schönsten Frühlingskleid strahlte. Da, endlich konnte ich wieder atmen. Als wäre eine Last von mir gefallen. Still blieb ich stehen, nahm die Schönheit dieser friedlichen Gegend in mir auf. Ich sah frisch gepflügte Äcker, frühlingsgrüne Wiesen, kleine Wäldchen, Weiher in Mulden, ja, ich vermeinte sogar Rosse wiehern zu hören. Eine verwitterte Bank stand da, gerade richtig, dass ich mich setzen und so ankommen konnte. “Ich bin da. Ich bin wahrhaftig da“, dachte ich unentwegt.
Dort, in der Ferne, auf dem höchsten der sanften Hügel sah ich die Turmspitze des Schlosses. Ja, ich war angekommen. Ich würde noch eine Weile ausruhen und mich dann auf den Weg machen. Oh, wie sehr ich mich freute!
Episode 1
Ich stehe vor dem Schlosstor blicke in den Hof, indessen Mitte der Apfelbaum in voller Blüte steht, eine Bank darunter, Blumenrabatte mit weissen Narzissen, goldenen Schlüsselblumen, Weinbergtulpen, Lerchensporn, inmitten hunderter, frisch erblühten Blausternen. Ich höre Hunde bellen und Rosse wiehern. Tauben turteln auf den Zinnen der zahlreichen Schlosstürmchen. Rosen ranken zwischen Geissblatt und Hopfen blühend und duftend die Schlossmauern empor. Es ist alles genau so, wie ich es in Erinnerung habe.
Doch etwas stimmt nicht. Es ist niemand hier. Keine Kinder spielen fröhlich im Hof und Garten des Schlosses. Der alte Mann, der sonst immer in der Nähe ist, die Wege wischt oder die Rosen pflegt, ist ebenfalls nicht zu sehen. Keine verführerischen Küchendüfte erfüllen die Luft. Das schloss scheint wie ausgestorben.
Da ertönt Glockengeläut, dasselbe, das ich von weitem schon gehört habe. Es sind die Glocken einer kleinen Kapelle inmitten des herrlichen Schlossparks. Das ist keine Feier, weder Hochzeit noch Geburtstag noch Trauerfeier, mutmasse ich, sonst wären Kutschen zuhauf parkiert, Diener und Stallknechte würden die Pferde versorgen. Die Mägde würden hin und her eilen, die Tische draussen mit dem kostbaren Geschirr decken. Aus der Küche würden alle erdenkliche Gerüche strömen, kurz, es wäre viel Betrieb. Aber hier ist kein Mensch zu sehen. Mir ist nicht geheuer.
Da erscheint Magda, die Küchenmagd, mit verquollenen, tränenden Augen, die sie mit dem Handrücken abwischt. Sie erblickt mich und stürzt mir entgegen.
«Oh, meine Liebe, vor lauter...», sie schluchzt auf, «Vergebt uns. Wir haben nicht mehr an Euch gedacht. Dass es wieder Zeit ist, dass Ihr ja ankommen werdet. Es ist etwas Schreckliches geschehen. Die drei Prinzessinnen. Oh, es ist so unfassbar!» Sie bricht ab und schaut auf ihre Füsse.
«Was ist mit den Prinzessinnen, so rede doch!»
«Sie schlafen!»
«Sie schlafen?», hake ich verdutzt nach.
«Sie schlafen seit drei Tagen schon», stammelt die Küchenmagd, «und wachen einfach nicht auf, lassen sich nicht wecken.»
Das kann nicht sein, überlege ich verwirrt, die Prinzessinnen müssen doch trinken. Ohne Wasser müssten sie längst tot sein.
«Wir haben Boten losgeschickt, um die drei Weisen Frauen kommen lassen, und waren vorhin in der Kapelle, um zu beten, wir alle. Aber ich muss in die Küche, damit wir die Weisen Frauen gebührlich empfangen können. Euch auch. Auch Ihr müsst durchaus aufs Beste verköstigt werden.»
Und plötzlich strömen Knechte, Mägde, der ganze Hofstaat übers Gelände, eilen in die Ställe, eilen in die Küche, eilen ins Schloss. Doch ohne die sonst üblichen fröhlichen Scherze und Neckereien. Die Geschäftigkeit erinnert mich an alten Zeiten, und doch fehlt ihr das Wesentliche. Mir wird weh ums Herz.
Gemessenen Schrittes schreitet der alte Mann, der sonst die Wege wischt und sich um die Blumenrabatte und Rosen kümmert, auf mich zu. Schweigend reiche ich ihm meine Hände zum Gruss, die er lange festhält.
«Ihr kommt zur rechten Zeit, meine Liebe, vielleicht wird uns Eure Märchenerzählkunst helfen», ein leises Lächeln huscht über sein Gesicht.
«Hm, ja, vielleicht», stammle ich ein wenig überrumpelt, «Doch sagt, wann treffen die drei Weisen Frauen ein?»
«Heute, oder morgen, hoffentlich.» Er blickt durch das Tor in die Ferne, sehnsüchtig, als ob er die Zeit beschleunigen könnte und die drei Weisen Frauen gleich auftauchen müssten. Doch die Wege zum Schloss ist menschenleer. So stehen wir lange, die friedliche Landschaft betrachtend, wo sich kleine Hügel bis zum Horizont erstrecken, wo kleine Weiler zwischen Wiesen, Äckern und frühlingsgrünen Wäldern liegen.
Da, da kommt jemand! Ein Wanderer? Er kommt näher, ein hochgewachsener Mann, dessen leichtfüssiger Schritt mir bekannt vorkommt. Es ist mein Unbekannter, mein Nebelbegleiter, der jetzt durchs Tor schreitet.
«Mylord!», der alte Mann rennt auf den Unbekannten zu, umarmt ihn herzlich, «Ihr kommt wie gerufen.» Und an mich gewandt: «Ich diente Mylord, lange bevor ich hierherkam.»
«Wir kennen uns bereits», erklärt Mylord und an mich gewandt «Ihr werdet gebraucht, wie Ihr seht!»
Wie gebraucht? Ein Märchen erzählen? So tun, als ob nichts geschehen wäre? Während die Prinzessinnen komatös in ihren Zimmern schlafen?
«Ihr müsst Euch lediglich besinnen, wer Ihr seid, welche Rolle Ihr hier innehabt. Ihr müsst nur den Faden in die Hand nehmen und die Geschichte spinnen. Doch kommt, ich führe Euch zu Tisch.»
Fäden, denke ich grüblerisch. All die vielen Fäden, die hier Jahr für Jahr neu gesponnen wurden, nicht nur durch mich, durch alle hier. An chaotische und aufwühlende Situationen und wie sich stets alles zu einem guten Ende fanden. Aber jetzt zweifle ich daran.
Da gewahre ich mit Erstaunen, dass die Tische inzwischen wie zu einem Festmahl gedeckt sind. Magdalena kommt mir entgegen und führt mich zu meinem Platz unter dem Apfelbaum, wo ich stets sitze, wenn ich hier verweile. Die Mägde wuseln herum, schöpfen und bedienen. Es gibt Suppe und frische Brötchen, nicht die sonst übliche extravagante Vielfalt an erlesenen Köstlichkeiten. Der alte Mann setzt sich neben mich, Mylord nimmt mir gegenüber Platz. Es ist gespenstisch. Trotz aller Betriebsamkeit wird kaum ein Wort gewechselt. Selbst die Kinder halten sich zurück, die Kinder, deren arglose Fröhlichkeit uns doch stets beglückt hat.
«Wo sind die Königin und der König?», flüstere ich dem alten Mann zu.
«Sie wachen bei ihren schlafenden Töchtern», bekomme ich zur Antwort, «und die gute Berta kümmert sich persönlich um sie.»
Die gute, liebe, treue Berta, die Köchin, die viel mehr ist als eine Angestellte. Sie ist das Herz dieser Gemeinschaft. Mit diesen Gedanken beginne ich die Suppe zu löffeln.
Episode 2
Ich blicke auf. Aller Augen sind auf mich gerichtet. Nun denn. Ich lege das Besteck auf den Tisch und beginne den Faden zu spinnen.
«Es war einmal eine Königin und ein König. Die hatten drei allerliebste Prinzessinnen...»
In diesem Augenblick geht ein Raunen durch mein Publikum.
«Die Frauen!»
«Die Weisen Frauen!»
«Sie sind endlich da!»
Die Rufe erschallen von allen Seiten. Und tatsächlich trippelten drei kleine, alte Weiblein durch das Tor. Aber wie die aussehen! Ich habe mir die drei Weisen Frauen gänzlich anders vorgestellt. Hoch gewachsene Schönheiten, mit feenhafter Kleidung, blütenreiner Haut und einer göttlichen Ausstrahlung. Die Weiblein, die nun, ohne uns eines Blickes zu würdigen, dem Palast zustreben, sind alt, runzelig und hässlich, und in graue Gewänder gehüllt. Die eine hat eine dicke Unterlippe, die zweite einen unförmig dicken Daumen und die dritte hat einen verunstalteten rechten Fuss. Sie tragen kleine Behältnisse in den Händen.
«Diese hässlichen Weiber sollen den Prinzessinnen helfen?», raune ich dem alten Mann neben mir zu.
«Ihr habt sie doch gerufen! Dann werden sie helfen können.»
«Ich? Ich habe niemanden gerufen!» Ich bin beinahe ein bisschen empört.
«Das sind eure Fantasien, die Wirklichkeit wurden!»
Es ist Mucks Mäuschen still. Nur das Tippeln der Füsse der Weiblein ist zu hören, unterbrochen von kleinen “Wumms“, wenn der verunstaltete dicke Fuss des dritten Weibleins den Boden trifft.
Jetzt betreten sie das Schloss.
«Was tun sie dort?», fragt mich eine der Knechte.
Schon will ich etwas erwidern, halte aber inne und spinne den Faden weiter.
«Die kleinen Weiblein gehen schnurstracks ins Schlafzimmer der drei wunderhübschen Prinzessinnen, die dort nach wie vor tief schlafend in ihren Betten liegen.
Die Königin und der König schauen erstaunt auf, doch das Weiblein mit der dicken Lippe heisst sie still zu sein, indem sie den Finger an die Lippen legt und leise “pst“ macht. Jetzt treten die Weiblein je zu einer der Prinzessinnen, öffnen die mitgebrachten Behälter, tunken ihre Zeigfinger hinein und betupfen sachte die Lippen der Schlafenden.
Da kann sich der König nicht mehr zurückhalten: “Was tut ihr da? Was habt ihr meinen Töchtern auf die Lippen gestrichen? Werden sie dadurch wieder aufwachen? Ist es ein Heilmittel?“
Da spricht das Weiblein mit dem grossen, platten Fuss: “Ihr müsst jetzt tapfer sein, meine Königin und mein König. Eure Töchter wurden verzaubert. Es wird ihnen kein Haar gekrümmt. Wir bringen hier jedoch die Schlüssel zu ihrer Erlösung“, sagt’s und zieht eine steinerne Tafel, die sie unter ihrem Gewand verborgen hatte, hervor, “Hier sind drei Aufgaben aufgeschrieben. Wenn ein Jüngling diese Aufgaben löst, dann werden alle drei Prinzessinnen erlöst. Aber bis dahin müssen wir dieses Zimmer hier absperren und den Schlüssel in den Ententeich in Eurem Park werfen.“
Kaum ist das Weiblein mit seiner Rede fertig, fällt die Königin mit einem Seufzer ohnmächtig zu Boden.»
Dagmara, eine der drei Kammerjungfern schreit auf. «Kommt, wir müssen der Königin beistehen!» Und schon eilen die drei Kammerjungfern dienstfertig davon.
Just in diesem Moment erscheinen die drei Weiblein unter dem Türbogen des Palastes und trippeln Richtung Schlosspark davon.
«Was tun sie dort?», fragt mich Magdalena.
«Ja, was tun die drei Weiblein im Park», widerhallt die Frage von allen Seiten.
«Sie gelangen zum Ententeich», spintisiere ich weiter, «das Weiblein mit dem grossen Daumen zieht den goldenen Zimmerschlüssel aus der Jackentasche und wirft ihn mit einem grossen Schwung ins Wasser. Das andere Weiblein zieht einen Beutel hervor und beginnt den Inhalt im angrenzenden Wald zu zerstreuen. Es sind Perlen, tausend Perlen an der Zahl!»
«Warum denn?», fragt Benjamin, der jüngste der Prinzen.
«Das muss eine der Aufgaben sein», das ist Vinzenz, sein älterer Bruder.
«Eine Aufgabe?», fragt wiederum Benjamin.
«Ach du Dummerchen. Hast du nicht zugehört? Unsere Schwestern müssen erlöst werden. Ein Jüngling wird kommen und die drei Aufgaben lösen.»
«Welche Aufgaben denn?»
«Die Perlen auflesen...»
«Alle Perlen?»
«Ja, alle!»
«Das ist ganz unmöglich!»
«Es muss möglich sein!»
«Und die zweite Aufgabe?»
«Denn Schlüssel aus dem Ententeich holen!»
«Das ist noch viel unmöglicher!»
«Der Jüngling müsste alles Wasser wegschöpfen», überlegt Lucas, der älteste der Prinzen, laut.
«Sag ich’s doch. Unsere Schwestern werden nie erwachen, niemals!», schluchzt Benjamin, «aber was ist die dritte Aufgabe?»
Jetzt schauen alle drei mich an. Nicht nur sie, die Augen des ganzen Hofstaats sind auf mich gerichtet.
«Es muss etwas mit den Flüssigkeiten zu tun haben, welche die Weiblein unseren Schwestern auf ihre Lippen gestrichen haben», mutmasst nun Vinzenz.
«Genau so ist es», mische ich mich wieder ein, «die Weiblein haben euren Schwestern verschieden Flüssigkeiten auf die Lippen gestrichen.»
«Was für Flüssigkeiten?», das ist wieder Benjamin.
«Holunderblütensirup, Apfelsaft und Honig.», erwidere ich.
«Das soll eine Aufgabe sein?», unterbricht mich Lucas.
«Lass die Märchenerzählerin doch ausreden!», schimpft Benjamin ungeduldig.
«Wenn der Jüngling, der eure Schwestern erlösen möchte, die Perlen aufgelesen und den Schlüssel aus dem Ententeich gefischt hat, dann kann er die Türe zum Zimmer eurer Schwestern aufschliessen und eintreten. Danach muss er herausfinden, welche von den dreien Honig auf den Lippen hat.»
Ein Seufzen geht durch die Anwesenden.
«Das ist ganz und gar unmöglich!», klagt Benjamin und fängt an zu weinen. Eine der Mägde nimmt ihn in die Arme und tröstet ihn.
«Und wenn nun ein Jüngling kommt, die Aufgaben auf der steinernen Tafel liest, die Perlen zu suchen beginnt, aber nicht alle findet, was geschieht dann?»
«Dann», ich zittere, möchte nicht weitersprechen, zu schrecklich ist allein die Vorstellung, was dann geschieht, «dann wird der Jüngling zu Stein.»
Episode 3
Kaum habe ich diesen furchtbaren Satz gesagt, dass nämlich der Jüngling, der die Prinzessinnen erlösen möchte und dabei scheitert, zu Stein wird, geht ein Tumult los. Ich höre Klagen, Jammern, Schluchzen, Aufseufzen und Schimpfen. Einige können nicht mehr an sich halten, stehen auf, schreiten davon, zum Palast, in den Schlossgarten, zu den Wäldchen des Schlosses, oder verlassen gar den Hof, treten durch das Tor hinaus auf den Weg, der vom Schloss wegführt, oder zum Schloss herführt, je nachdem ob man kommt oder geht.
Einige der Küchenmägde bleiben besonnen. Sie räumen das Geschirr ab, reinigen die Tische und bringen neues Geschirr, dazu Krüge mit Kaffee und heisser Schokolade, Platten mit verschiedensten Kuchen und Keksen. Auch zwei, drei Flaschen edlen, alten Armagnacs stehen jetzt auf den Tischen, bereit, getrunken zu werden, dazu kleine, geschwungene Gläser. Letzteres ist bestimmt die Idee Bertas und wird das eine oder andere Gemüt besänftigen.
Wie magisch angezogen, strömen all die Mägde, Knechte und Zofen, auch die Prinzen wieder zu Tisch.
Jetzt erscheint auch die Königin, mit aschfahlem Gesicht, von der treuen Berta gestützt, und nähert sich langsam der Tischgesellschaft.
Der König, der seiner Gattin folgt, schreitet königlich, doch sein Gesicht scheint vor verhaltenem Schmerz wie versteinert.
Seufzend setzt sich die Königin auf ihren thronähnlichen Stuhl. Und mit einem Klagelaut: «Jetzt habe ich all meine vier Töchter verloren!»
«Vier Töchter? Mit Verlaub, Hoheit, das ist Unsinn! Ihr habt drei Töchter. Drei und nicht vier. Und drei wohlgeratene Söhne, muss ich noch erwähnen. Die sitzen hier frisch und munter am Tisch. Mmh, vielleicht nicht ganz so munter wie üblich», das ist Magdalena.
Schon habe ich Angst, die Königin könnte zornig werden, dass ihr widersprochen wurde. Doch dem ist nicht so. Im Gegenteil.
«Ich hatte eine Tochter, mein erstes Kind, als ich erst achtzehn Jahre jung war, lange, bevor du hier in den Dienst genommen wurdest», erklärt die Königin und bricht mit einem weiteren Seufzer ab.
«Ihr müsst nicht über Sophia sprechen, das tut Euch nicht gut, meine Liebe, das bricht nur alten Kummer auf», versucht Berta ihre Königin zurückzuhalten.
«Ihr hattet eine vierte Tochter?», wagt Dagmara, eine der Kammerjungfern zu fragen.
«Sie war meine erste Tochter, nicht die vierte.»
«Was ist geschehen?», erkundigt sich Irene, die zweite der Kammerzofen.
«Ach, sie war so ein süsses, kleines Mädchen. Ich habe sie überaus geliebt. Ja, ich war ganz närrisch. Ich habe sie stundenlang auf dem Arm getragen, bin mit ihr durch den Schlossgarten herumspaziert, habe ihr die Schmetterlinge gezeigt, die Rosenblüten, die Enten im Teich, auch die Fische, die Tauben auf den Zinnen. Sie hat gejauchzt und frohlockt.», die Königin hält inne, ein Lächeln zaubert sich in ihr Gesicht, «Sophia war ein zufriedenes, glückliches Kind. Aber einmal, es war ein windiger Tag, ich konnte mit ihr nicht hinaus in den Schlossgarten, da hat sie geweint, aber nicht, weil sie traurig war oder ihr etwas fehlte. Sie war zornig und ablehnend. Ich konnte sie nicht beruhigen. Ich habe ihr ein Liedchen gesungen, hab mit ihr im Kreis herumgetanzt, was sie sonst zum Lachen brachte, aber an diesem Tag – nichts half. Ich schaute zum Fenster hinaus. Raben flogen um die Zinnen, spielten mit dem Wind, krächzten laut. Ich öffnete das Fenster: “Schau mal die Krähen“, versuchte ich Sophia abzulenken. Aber sie beruhigte sich nicht. “Ach, wärst du nur ein Rabe und flögest fort, dann hätte ich meine Ruhe!“, entfuhr es mir. Und kaum hatte ich das gesagt, da verwandelte sich Sophia in eine Krähe und flog durch das Fenster hinaus.»
Die Königin verstummt. Alle, die ihr gelauscht hatten, bleiben still, wagen kaum zu atmen.
«Liebe Mama, ist Sophia nie mehr zu dir zurückgekehrt?»
«Nein, mein lieber Benjamin, nie mehr»
«Du weisst gar nicht, wo sie jetzt lebt?», das ist Lucas.
«Nein, ich weiss gar nichts.»
«Arme Mama!», ruft Benjamin, steht auf und umarmt seine Mutter, deren Wangen tränennass sind.
«Arme Sophia!», ruft Vinzenz mit zorniger Stimme, «Arme Sophia, unsere Mutter hat dich verwünscht!»
Betroffenes Schweigen allenthalben.
«Wurden unserer drei Schwestern deshalb verwünscht?», fragt Benjamin ängstlich.
Bestürztes Schweigen allenthalben.
Da steht Mylord, der bisher schweigend zugehört hat, auf und mit fester Stimme sagt er in die Runde: «Ihr Lieben, Eure Mutter, die Königin hat ihre Verwünschung mehrfach widerrufen. Jedoch ohne Erfolg. Aber Sophia geht es gut!»
Fassungsloses Schweigen allenthalben.
Dann aber bricht ein Tumult los. Von allen Seiten wird Mylord bestürmt, tausend Fragen peitschen auf ihn ein. Er hebt die Hände, gleich einem Dirigenten, welcher ein Orchester führt.
Dann sieht er mich an. Eindringlich. «Mylady, ich bitte Euch.»
Das kenne ich. Ich soll den Ball, den er mir zugespielt hat, fangen und mit erzählen beginnen. Ich bin als Märchenerzählerin hier, Jahr für Jahr. Oft übernehmen die Anwesenden selbst eine Rolle darin. Manchmal gibt es Streit, wer wen spielen darf. Dieses Jahr scheint alles ein wenig anders zu sein.
In aller Ruhe trinke ich meinen Kaffee aus und – also ob er meine Gedanken lesen könnte – schenkt mir der alte Mann neben mir ein Glas Armagnac ein.
«Nun, Sophia, in der Gestalt eines Raben, flog zu einem finsteren, undurchdringlichen Wald, wo sie lange Zeit in Ruhe lebte.»
Episode 4
«Igitt, Sophia hat Mäuse gefressen», unterbricht mich Benjamin.
«Oder Aas!», wirft Vinzenz mit zorniger Stimme ein.
«Was ist Aas?», fragt Benjamin.
«Das sind tote Tiere, du Dummerchen!», das ist Lucas.
«Igitt! Lieber würde ich verhungern, als tote Tiere zu essen!», das ist wieder Benjamin.
«Oh, da kenn ich aber einen, der liebt Kartoffelstock mit Fleischbällchen mit Sauce über alle Massen!», wirft Vinzenz ein, nun nicht mehr ganz so zornig.
«Fleischbällchen sind tote Tiere?»
«Ein Rabe frisst auch Beeren und Nüsse, Eier von Vögeln...», versucht Magdalena die Diskussion zu beenden.
«Können wir Sophia nicht suchen gehen?», das ist wieder Benjamin.
«Oh, ja, wir werden Sophia suchen und finden. Dann sind wir die Helden!», das ist Lucas.
«Haltet ein, meine Prinzen!», ruft die Königin, «Was denkt ihr denn nur! Wir haben damals sofort Suchtrupps losgeschickt, um Sophia zu finden, Boten sind in alle Dörfer geritten und haben nach Sophia gefragt. Ergebnislos.»
«Und die Weisen Frauen? Können die unsere Sophia nicht finden?», fragt zögerlich Vinzenz.
«Die haben wir auch konsultiert», erklärt die Königin ermattet, «Doch sie sagten, die Prinzessin sei jetzt weit, weit weg, viel zu weit weg, als dass ihr ein Zauber helfen könnte. Sie haben den Namen des Schlosses genannt, wo sie weilt. Ich schrieb den Namen auf ein Zettelchen und tat das Zettelchen in eine kleine, goldene Dose, und tat diese in die Schublade meines Schreitischs. Allein, die Dose ist verschwunden.»
«Habt ihr keinen Boten geschickt, um die Stätte, welche die Weisen Frauen genannt haben, zu finden?», das ist jetzt Lucas.
«Wir haben Boten geschickt, doch niemand hatte je von diesem Ort je gehört», mischt sich nun endlich klärend der König ein.
«Der Ort war kein Ort, sondern ein Schloss!», wirft die gute Berta ein.
«Oh, ja ein Schloss, ein goldenes Schloss!», die Königin.
«Auf einem Berg, ein goldenes Schloss auf einem Berg», das war Berta.
«Stromberg!», ruft die Königin, «Das Schloss, wo Sophia weilen soll, ist das goldene Schloss von Stromberg!»
«Was macht ein Rabe in einem Schloss?», das ist Lucas.
«Vielleicht ist sie gar kein Rabe mehr? Vielleicht ist sie eine wunderschöne Prinzessin?», das ist jetzt Vinzenz.
«Wir müssen sie finden!», ruft tatenlustig Benjamin.
«Wir werden sie finden!», ruft abenteuerlustig Lucas.
«Wir brauchen eine Kutsche mit den stärksten Pferden und ganz viel Proviant!», erwägt Vinzenz.
Ich sitze stumm daneben. Höre den wilden Spekulationen zu. Nehme mein Glas, mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit, hebe es an meine Lippen, und lasse einen Schluck durch meine Kehle rinnen.
Es läuft aus dem Ruder, das Märchen, überlege ich, die schlafenden Prinzessinnen hier, eingeschlossen in ihrem Zimmer, und die jüngste Prinzessin dort, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Im Nirgendwo. Und die Prinzen, die sich nun wohl tatenmutig auf den Weg machen werden. Denn sie werden sich nicht zügeln lassen. Ich sehe das Glitzern in den Augen. Da gleichen sie ihrem Vater. Wenn sich der König etwas in den Kopf gesetzt hat, kann ihn niemand bremsen, dann lässt er nicht locker.
Plötzlich greift sich Vinzenz an den Kopf: «Wir Tölpel, wir können gar nicht von hier weg, sonst lassen wir ja unsere schlafenden Schwestern hier im Stich!»
Da tritt einer der Stallknechte, ein schmächtiger Kerl, hervor: «Ich melde mich freiwillig, ich werde die Perlen suchen und nach dem Schlüssel tauchen und die Prinzessinnen erlösen.»
«Noch mehr Freiwillige hier?», ertönt der laute Bass des Königs.
«Hier! Ich!», es ist einer der Jäger.
«Ich auch!», meldet sich der Schatzmeister.
«Ich!», ein Zimmermann.
«Ich!», der Gehilfe des Schmieds.
«Ich!» ein weiterer Stallknecht.
«Ich auch!», einer der Fischer.
«Ich zuerst!», es ist Dagmara, die Kammerzofe der Königin.
«Wir werden auslosen, wer zuerst beginnt», entscheidet der König, «aber den Schatzmeister können wir nicht entbehren. Und», mit einer leichten Verbeugung zu Dagmara, «dein Angebot und Wagemut in Ehren, doch auf der steinernen Tafel wird ausdrücklich gesagt, es müsse ein Jüngling sein.»
«Meine Prinzen gehen nirgendwohin!», ruft da die Königin dazwischen, die sich von ihrem Stuhl erhoben hat, «Ich will sie nicht auch noch verlieren!»
«Und ich verbiete meinem Sohn, die Perlen zu suchen. Seine beiden älteren Brüder sind seit langem verschwunden. Ich will meinen Jüngsten nicht auch verlieren!», ruft der Vater des schmächtigen Stallknechts.
Erneuter Tumult. Ein Hin und Her. Bald melden sich noch mehr Wagemutige, welche die drei Aufgaben lösen wollen, bald melden sich jene, die Bedenken haben. Ich nehme mein Glas und entferne mich, trete durchs Tor. Nur hinaus.
Die Abendsonne taucht die liebliche Landschaft in goldenes Licht. Ich setze mich an den Wegrand, lausche den Geräuschen der anbrechenden Nacht, dem Gezirpe der Grillen, dem Ruf eines Waldkauzes, schaue den ersten Fledermäusen zu, die in der anbrechenden Dämmerung mit jähen Wendungen Insekten jagen.
Ich höre Schritte, schaue aber nicht auf.
«Hörst du mir zu? Du musst dich nicht als Helden aufspielen, Junge!», das muss der Vater des schmächtigen Stallknechts sein.
«Aber Vater, einer muss es doch tun!», die Stimme des Stallknechts.
«Weshalb du?»,
«Nach mir haben sich noch andere gemeldet. Kannst du wenigsten das anerkennen? Dass ich als erster den Mut hatte? Dass ich es leid bin, der Dummling zu sein?»
«Ich habe Angst, dich auch zu verlieren», der Vater scheint verzweifelt.
«Das verstehe ich sehr wohl. Aber irgend eines Tages bin ich so oder so weg, gründe meine eigene Familie. Ich bin nicht mehr dein kleiner Junge, Vater! Ich werde an der Verlosung teilnehmen!»
«Nein!»
«Warum machst du mir es so schwer Vater? Nun gut, ich werde nicht an der Verlosung teilnehmen. Ich werde meine Brüder suchen und sie nach Hause bringen.»
«Du kennst dich doch in der Welt gar nicht aus.»
«Siehst du, du traust mir nichts zu. Doch mich hält nichts mehr zurück. Heute, spätestens aber morgen früh, wenn die Sonne aufgeht, werde ich abreisen. Ich werde meine Brüder finden und sie zurückbringen. Adieu, mein lieber Vater.»
Schweigen. Die Schritte entfernen sich.
Episode 5
Es ist früher Morgen, liebe Kathrin. Ich habe tief und fest geschlafen, doch jetzt bin ich bereits draussen, möchte einen Spaziergang machen, bevor es Frühstück gibt. Frühstück und Fragen und Leid. Die Küchenmägde sind längst aufgestanden und rege tätig. Die Luft ist erfüllt vom Geruch frisch gebackenen Brotes. Noch einen Moment möchte ich allein sein, die Ruhe geniessen.
Schon trete ich hinaus vors Tor. Ein schmaler Pfad führt entlang der Schlossmauer, an dessen Ränder unzählige wilde Stauden blühen, die von Schmetterlingen und allerlei Bienen und Käfern umflattert und umflogen werden.
Heute, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, soll der Jäger, auf den das Los gefallen ist, die Perlen suchen. Wenn nicht ein Wunder geschieht, wird er zu Stein. Ich mag gar nicht dran denken.
Da erblicke ich den schmächtigen Stallknecht, der hoch zu Ross durchs Tor reitet. Oho, er reitet Vinzenz’ edles Pferd, eine schwarze Stute. Da muss irgendein Handel gemacht worden sein.
Ich schaue ihm nach. Wie gern würde ich bei seinem Ritt dabei sein, Abenteuer erleben, nicht einfach erzählend Abenteuer ausdenken. Den frischen Wind spüren, wenn ich im Galopp reitend über die Felder presche. Was natürlich blanker Unsinn ist. Ich kann gar nicht reiten.
Jetzt zieht der nicht mehr so schmächtig wirkende Stallknecht die Zügel leicht an, und bringt mit einem lauten ‘Brrr’ das Pferd zum Stehen, wirft mir einen Blick zu, macht rechtsumkehrt und reitet ins Schloss zurück. Ob er es sich anders überlegt hat? Doch kurz darauf kehrt er zurück, zu Fuss. Er führt ein zweites Pferd mit sich und kommt geradewegs auf mich zu.
«Hier, dieses Ross ist für eine Anfängerin wie Euch geeignet.»
«Ich, ich wollte doch nicht, ich kann Euch doch nicht...», stammle ich, «Woher wusstet Ihr...?»
«Es ist ganz leicht. Morena zu reiten, meine ich. Ihr braucht nur aufzusteigen, fest im Sattel zu sitzen und die Zügel zu ergreifen. Morena ist eine sehr feinfühlige Stute, Ihr könnt ihr vertrauen.»
Ich zögere. Soll ich einfach der Geschichte entfliehen und fortreiten? Obwohl ich nicht reiten kann? Aber hier, jetzt, in diesem zauberhaften Land, schwinden meine Bedenken wie Schnee in der Sonne.
«Kommt, ich helfe Euch», ermuntert mich der Stallknecht, der jetzt in die Hocke geht und seine Hände so verschränkt, dass sie eine Stiege formen, «Ihr könnte Euch am Sattel halten, den linken Fuss auf den Steigbügel hier setzen und dann den rechten auf meine Hände und hinaufsteigen!»
Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen, ergreife den Sattelknauf, setze meinen linken Fuss auf den Steigbügel, den rechten auf die Hände des Stallknechts, der mich irgendwie hinauf hievt und – schon sitze ich im Sattel.
«Schön locker bleiben, schön locker sitzen!», ermahnt mich der Kerl, «und jetzt die Zügel ebenfalls ganz locker halten. Gut so!» Er schnalzt mit der Zunge und das Pferd, mein Pferd, auf dem ich nun sitze, setzt sich in Bewegung.
«Wir gehen im Schritt, bis Ihr Euch ganz sicher fühlt.» Und schon sitzt er ebenfalls auf seiner Stute und wir trotten langsam den Weg entlang, der sachte abwärtsführt, dass Schloss liegt ja auf dem höchsten Hügel weitum.
«Was habt Ihr eigentlich vor? Wohin reiten wir?», erkundige ich mich.
«Na, zuerst den Höfen, Weilern und Dörfern entlang, wir erkundigen uns bei den Bauern und in den Kneipen, ja und dann schauen wir weiter.»
Wie er’s gesagt, so getan.
Es ist eine fröhliche Reise, die wir da unternommen haben. Wir kommen an unzähligen Höfen vorbei, wo Hühner, Gänse, Enten, Ziegen, Schafe und Kühe meist ohne irgendeine Umzäunung weiden, manchmal passen Kinder auf sie auf.
Ja, diese vielen fröhlichen, glücklichen Kinder. Ich habe selten so viele Kinder draussen spielen sehen. Kinder jeglichen Alters. Kleine Knirpse, welche den Hühnern hinterherrennen. Hüpfen spielende Kinder und Jungen, die auf Bäume klettern, so hoch, dass es einem beim Zusehen den Atem nimmt.
Wo immer wir jemandem begegnen, fragt der Kerl, der im Übrigen Moritz heisst, ob seine Brüder gesehen worden seien. Die Menschen sind gesprächig hier. Laden uns zu einem Getränk ein, oder bieten uns Brot oder Kuchen an, fragen Moritz aus und er muss erzählen und erzählen.
«Ach, vom Schloss kommt Ihr? Das habe ich mir noch halbwegs gedacht, denn ein so edles Pferd, wie Ihr da reitet, wird hier kaum gesehen», erklärt uns der Wirt vom “Weissen Rössle“.
Wir sitzen draussen auf einer Bank, vor uns eine einfache Mahlzeit, wie es auf dem Lande hier üblich ist. Eine Gemüsesuppe, dazu frisches Brot mit Butter und Käse, ein Krug Wasser und ein Krug leichten Weins, der darf offenbar niemals fehlen.
«Eure Brüder habe ich nicht gesehen, aber manchmal haben wir hier so viel Betrieb, da kann es auch sein, dass sie doch mal hier gespeist haben», fährt der Wirt fort, der uns gegenüber Platz genommen hat, «Aber etwas anderes fällt mir ein. Einmal war einer hier, ein hochgewachsener Kerl, der hat nach dem Schloss Stromberg gefragt. Aber keiner, der damals hier gevespert hat, hatte je von einem Schloss Stromberg gehört. Auch der alte Linus nicht. Ah, das könnt Ihr ja nicht wissen. Der Linus war lange ein Bote des Königs, bis er sich hierher zurückgezogen hat. Der kennt jeden Winkel des Reiches. Wir haben uns alle gewundert, dass Linus von Stromberg noch nie was gehört hat, das will was heissen! Nur deshalb ist mir die ganze Sache in Erinnerung geblieben.»
Ich sitze da, wie vom Donner gerührt. Da suchen wir Moritz’ Brüder und finden einen Anhaltspunkt zu Sophia.
«Erinnert Ihr Euch vielleicht, wohin sich der Fremde dann hingewendet hat?», frage ich innerlich bebend.
«Na ja, nach Norden natürlich.»
«Weshalb Norden?»
«Ja, der Kerl hat gesagt, er käme aus den Wäldern im Süden, jetzt müsse er die Wälder des Nordens durchsuchen. Deshalb. Aber sagt, habt Ihr denn keinen Hunger oder schmeckt’s Euch vielleicht nicht?»
«Oh, nein, die Gemüsesuppe ist herrlich. Ihr müsst wissen, die jüngste Königstocher ist seit Jahren verschwunden und unser einziger Anhaltspunkt ist, dass sie im Schloss Stromberg sein soll.», erklärt Moritz.
Und er erzählt alles, was sich im Schloss – tags zuvor erst? – zugetragen hat. Der Wirt hört interessiert zu, stellt ab und zu eine Frage, tischt einen leckeren Kirschkuchen auf, bringt mehr Wein, stellt noch mehr Fragen, hört noch interessierter zu. Andere Gäste kommen hinzu, werden von der Tochter des Wirtes bedient, stellen ebenfalls Fragen, hören noch interessierter zu, und bevor wir uns versehen, bricht die Dämmerung herein. Der Wirt bringt uns Kaffee und Schnaps und lädt uns zum Übernachten ein. Denn Wirte bewirten nicht nur, sie beherbergen auch.
Episode 6
Ein neuer Tag! Ich stehe draussen vor der Kneipe. Ein zarter Nebel schwebt über den Niederungen. Vogelgezwitscher ringsum in den Hecken, Büschen, Bäumen. Mauersegler gleiten pfeilschnell durch die Lüfte. Milane ziehen ihre Kreise.
Es ist spät geworden, gestern Abend. Der alte Linus wurde geholt, und mit ihm kam das halbe Dorf. Er wurde über die Wälder im Norden ausgefragt. Riesen sollen dort wohnen. Mehr wusste er nicht. Aber wenn einer nach Stromberg frage und niemand je von diesem Schloss gehört habe, so führte Linus aus, dann müsse der Fragende diesen Sachverhalt zuvor erfahren haben. Im Süden folglich. Ob es dort gefährlich sei, im Süden, wurde er gefragt. “Gefährlich?“, Linus hat sich am Kopf gekratzt, tüchtig in sein grosses Taschentuch geschnäuzt und endlich geantwortet: “Dort lebte lange Zeit ein Rabe, der sprechen konnte.“ Und wieder war ich wie vom Donner gerührt. “Ihr sagtet ‘lebte’, wagte ich nachzufragen, “heisst das, der Rabe lebt nicht mehr?“ Wieder fing Linus an sich umständlich zu schnäuzen. “Das will nichts heissen, der Rabe kann auch irgendwohin geflogen sein!“ Und nach einer Weile: “Im Süden wohnt eine wunderliche, alte Frau im Wald. Es wird gemunkelt, dass sie schon einige Wanderer verzaubert habe“, und nach erneutem Schnäuzen, “Oder Schlimmeres.“
Da tritt Moritz aus unserer Herberge und unterbricht mein Nachsinnen.
«Wohin des Weges, Moritz?»
«Ihr meint, nach Süden oder Norden?»
«Genau!»
«Zuerst einmal: Nirgendwohin. Ich brauche ein kräftiges Frühstück und viel Wasser!»
«Wasser?»
«Na, weil ich gestern Abend wohl ein paar Schnäpse zu viel getrunken habe!»
Sagt’s, geht zum Brunnen, der friedlich plätschert und trinkt direkt aus dem Brunnerohr. Dann kehr er zu mir zurück, bleibt neben mir stehen. Wir blicken in die Ferne, über die zauberhafte Landschaft, bis zum Horizont, wo wie der Mond scheinbar zwischen lieblichen Wölkchen schwebt. «Aber mal ernsthaft: Nach Süden oder Norden?»
«Keine Ahnung. Wir müssen wohl das Los entscheiden lassen. Oder eine Münze werfen!»
«Ein Los, mein Gott, ein Los! Das Los fiel auf den Jäger. Was wohl geschehen ist?»
«Das fragt Ihr mich? Gnädigste, Ihr seid die Märchenerzählerin hier.»
Das schon, aber keine Hellseherin, möchte ich einwenden, aber da drängen sich Bilder vor mein geistiges Auge.
Wir setzen uns, derweil der Wirt und seine Tochter uns eilig bedienen, ein Körbchen mit Rosinen- und Laugenbrötchen auf den Tisch stellen, dazu Butter, Marmelade, Honig, einen Krug Kaffee und ein Kännchen Sahne. Mir läuft das Wasser im Munde zusammen.
«Der Jäger ist ein Stein», erkläre ich kauend, «Er hat zweihundertsieben Perlen gefunden, dann ging die Sonne unter.»
«Schrecklich! Aber vorauszusehen!»
«Ach, wenn Euer Vater nicht wäre, dann wärt Ihr jetzt der Stein», erwidere ich.
«Ihr habt uns gehört?»
«Ja, ich sass draussen und habe Euren Zwist gehört. Ihr habt ja nicht gerade geflüstert oder gemurmelt.»
«Auf wen ist das Los danach gefallen?», fragt Moritz unverhohlen neugierig.
«Auf den Küchenjungen!»
«Oh nein! Der hat die besten gebrannten Cremen gemacht! Und die besten Schokoladenschäume!»
«Ihr meint die Crèmes brûlées? Und Mousses au Chocolat?»
«Genau!»
«Denkt Ihr eigentlich immer zuerst an Euren Bauch?»
«Nein, nein. Es ist tragisch. Der Küchenjunge ist flink. Er muss hoffentlich wohl nur noch die siebenhundertdreiundneunzig noch nicht gefundenen Perlen finden, vielleicht schafft er das ja. Aber der Kerl kann nicht schwimmen. Ich auch nicht, übrigens.»
«Ihr könnt nicht schwimmen und habt Euch freiwillig als erster gemeldet, die Aufgaben zu lösen? Das verstehe ich nun gar nicht.»
«Ach, irgendwie wird’s schon gelingen!»
«Vielleicht liegt's an Eurer Jugend. Es scheint, Ihr seid übermütig und abenteuerlustig wie Eure älteren Brüder. Nicht unbedingt zu Eurem Besten!»
Inzwischen haben wir die Brötchen ratzeputz weggeputzt und den Kaffee ausgetrunken.
«Wie geht es Eurem Kater?»
«Kater?», Moritz schaut mich fragend an und lacht dann auf, «Der Kater ist weg. Ich fühle mich frisch wie die Morgenröte.»
Jetzt muss ich lachen: «Ihr meint wohl, frisch wie der junge Morgen! Erröten müsst Ihr nicht deswegen.»
«Von mir aus: frisch und munter. Zufrieden? Müsst Ihr mich eigentlich immer tadeln?»
«Belehren meint Ihr?»
«Seht Ihr, Ihr tut es bereits wieder! Reiten wir jetzt los?»
«Halt, wir müssen doch die Zeche bezahlen und ich habe kein Geld dabei!»
Da winkt der Wirt ab: «Ihr seid mir nichts schuldig. So viele Leute wie gestern Abend habe ich selten in meiner Wirtsstube gehabt. Als man Linus holte, hat man gleich das ganze Dorf informiert und alle sind sie hergekommen. Alle. Ich habe Wein und Schnaps verkauft, mehr als in einem ganzen Monat. Geht in Frieden und kommt beim Rückweg wieder hier vorbei! Ich bitte Euch darum.»
So trotten wir auf unseren Rossen dahin. Nach Süden, wie ich am Sonnenstand erkenne.
“Eigentlich sind wir viel zu langsam unterwegs“, überlege ich, da schnalzt Moritz mit der Zunge und schon wechseln unsere Rosse in den Trab. Ich bin so überrascht, dass ich beinahe das Gleichgewicht verliere und vom Pferd purzle.
«Ihr könnt Euch notfalls am Sattelknopf festhalten. Aber besser ist es, wenn Ihr schön gerade, aber locker sitzen bleibt und die Füsse fest in die Steigbügel stellt.»
Der kann gut reden, denke ich, der reitet bestimmt seit Kindesbeinen.
«Wir werden Wochen brauchen, bis wir den Wald im Süden erreicht haben!», ruft Moritz unwirsch aus, dreht sich zu mir um, «Könnt Ihr nicht ein wenig Euren Zauberstab rühren und uns in Windeseile zu dieser alten Frau bringen, von welcher der alte Linus erzählt hat?»
«Ich bin keine Zauberin, bloss eine Märchenerzählerin», erwidere ich ebenso missvergnügt, denn mir tun die Beine weh, nicht nur die Beine, auch mein Rücken und mein Allerwertester. Ich brauchte eine Pause, müsste mir die Beine vertreten. Vermutlich sitze ich nicht so locker, wie Moritz es wünscht.
«Das ist dasselbe», erwidert Moritz, «Zauberin oder Märchenerzählerin, meine ich.»
Schon will ich widersprechen, schon will ich mich nochmals erklären. Da gelangen wir unvermittelt an eine Kreuzung. Mit einem lauten «Ho», bringt Moritz unsere Pferde zum Stehen.
«Hoppla! Das ging ja blitzartig! Ihr müsst mich mal unter Weisen, wir Ihr das fertigbringt!»
Ich fühle mich überrumpelt, habe keine Ahnung, wovon der gute Moritz spricht.
«Ihr wisst nicht, wovon ich spreche? Seht diese Kreuzung, wo wir jetzt angehalten haben. Die gab es kurz zuvor noch nicht. Und dieser Wegweiser hier genau so wenig. Mal schauen was da drauf steht. Richtung Osten geht es nach Himmelsbühl, nach Westen nach Kühwalden, nach Norden nach Rieshausen und nach Süden nach, nein nicht nach. Seht, da steht ja ein ganzer Satz!»
Ich trete näher und lese den Satz laut vor: «Reisende, wenn Ihr zur alten, wunderlichen Frau möchtet, dann geht nicht in diese Richtung. Sie haust zwar nicht weit von hier, aber sie will Euch übel. Falls Ihr trotzdem diese Richtung einschlägt, dann dürft Ihr von ihr weder Speis noch Trank zu Euch nehmen. Sonst fällt Ihr in einen tiefen Schlaf und wacht vielleicht niemals mehr auf.»
Episode 7
Ich bin immer noch perplex. Starre die Buchstaben an, die vor meinen Augen zu tanzen beginnen. Wir sollen diese Richtung nicht einschlagen, nach Süden folglich, weil die Alte uns vergiften will.
«Wie macht Ihr das?», das ist Moritz.
«Ich, ich habe nichts gemacht!» Ich stammle. Mir dreht sich alles vor Augen.
«Doch, Ihr habt gezaubert, oder eure Märchenkünste walten lassen, da bin ich mir sicher. Ich habe eben erst noch nach einer Abzweigung Ausschau gehalten, aber der Weg führte schnurgerade zwischen Äckern und Wiesen hindurch. Und seht nur: Hier sind Weinfelder. Keine Äcker, keine Wiesen weit und breit, alles Rebstöcke, tausende! Dazwischen kleine Gebäude, darin man die Werkzeuge für den Weinbau aufbewahrt. Und da vorne: Seht Ihr den Wald? Kein abwechslungsreicher Laubwald, mit zarten, hellgrünen Blättchen, wie im Frühling vorherrschend, nein ein dunkler Tannenwald, wie es scheint!»
Ich bin nach wie vor fassungslos. Es ist tatsächlich so, wie Moritz festgestellt hat: Die Gegend hier sieht vollkommen anders aus als eben erst. Auch der Wald war vorhin nicht da.
In diesem wundersamen Lande stehen an jeder namhaften Kreuzung ein Baum und eine Bank. Manchmal auch zwei Bäume und zwei Bänke. Was praktisch ist, wenn man zu Fuss oder hoch zu Ross unterwegs ist und rasten möchte. Hier, an dieser Kreuzung, wurde einst, vor hundert Jahren oder noch früher, eine Linde gepflanzt, die jetzt mächtig gross ist und ihr Geäst über uns hält, als würde sie uns vor aller Unbill schützen wollen.
«Wir wollen rasten! Und uns dabei beraten. Seid Ihr einverstanden? Oder wollt Ihr vielleicht schnurstracks in den Wald reiten?»
«Warum unterstellt Ihr mir, dass ich in den Wald möchte?», frage ich Moritz konsterniert, «Nein, ich brauche eine Pause. Ich bin zu aufgewühlt, ich muss erst zur Ruhe kommen.»
Und während ich von meiner lieben Stute hinuntergleite, redet Moritz unverdrossen weiter.
«Ich verstehe nicht, warum Ihr so überrascht seid. Oder tut Ihr nur so? Ich müsst es doch gewohnt sein, dass sich die Dinge um Euch herum abrupt ändern?»
Ich mag nicht antworten, öffne die Satteltasche und nehme Wurst und Brot heraus, setze mich auf die Bank, breche ein Stück des Brotes ab und beginne schweigend zu kauen. Danach beisse ich in die Wurst. Sie ist kräftig gewürzt, viel Pfeffer, viel Knoblauch, ein wenig Kümmel und Muskatnuss schmecke ich heraus. Ein Hauch Ingwer, vielleicht ein Hauch Zitrone?
«Geht es Euch nun besser?», Moritz streckt mir ein Becher mit frischem Quellwasser zu.
Ich nicke. Ja, es geht mir besser. Deutlich besser.
«Scheint es Euch nicht eigenartig, dass die Alte ein Gift mischt in Speis und Trank, das einem schlafen lässt? Ich muss unentwegt an die Prinzessinnen denken. Ist es ein Zufall, oder hat diese Alte vielleicht ihre Finger mit im Spiel?»
Moritz hat recht. Dieses seltsame Zusammentreffen finde ich ebenfalls merkwürdig.
«Weshalb haben wir eigentlich den Weg nach Süden eingeschlagen und nicht nach Norden, wo vielleicht das Schloss Stromberg liegt?», gebe ich zu bedenken.
«Wir gehen dem Hinweis nach dem Raben nach, erinnert Ihr Euch?»
Ich seufze: «Dann müssen wir nach Süden und uns in Acht nehmen. Falls wir tatsächlich zum Haus der Alten gelangen, dürfen wir auf keinen Fall Speis und Trank annehmen.»
«Ihr müsst mich nicht belehren. Das weiss ich wohl!»
Wir steigen wieder auf unsere Pferde und reiten los. Ein mulmiges Gefühl beschleicht mich, als wir den Wald erreichen.
Es ist ein dichter, dunkler Tannenwald. Keine Blumen, keine einzige Staude ist zu sehen, nicht einmal Sauerklee, der selbst in den schattigsten, dichtesten Tannenwäldern gedeiht. Nein, nur Moos wächst hier, der Waldboden ist von dunkelgrünem Moos überzogen.
Lange reiten wir schweigend und lauschen ununterbrochen nach Auffälligem. Plötzlich hören wir Stimmen. Frauenstimmen.
Leise nähern wir uns und gelangen in eine Lichtung, zu einem kleinen Häuschen. Davor sitzen drei hutzelige Weiblein auf einer Bank in der Abendsonne und spinnen. Aber wie sie Spinnen! Nur die eine hat ein Spinnrad vor sich, sie tritt und tritt, damit das Spinnrad in Schwung bleibt, gleich neben ihr sitzt ein Weiblein, das den Faden mit den Lippen befeuchtet, der durch ihre Hände gleitet, und dann weiter direkt zu der Spinneden Spinnrad. Neben ihr sitzt ein Weiblein, das Fasern aus einem Beutel Wolle zupft und diese dem zweiten Weiblein weiterreicht, die ihn dann befeuchtet und weitergleiten lässt.
Ich bin wie vom Donner gerührt, denn ich erkenne die Weiblein an ihren Verunstaltungen. Die Tretende hat einen unförmigen, platten Fuss, diejenige, die den Faden befeuchtet, eine überhängende Lippe und die letzte einen übergrossen Daumen.
«Die Weisen Frauen!», entfährt es mir, worauf diese erschrocken aufschauen, dann freundlich lächeln, und uns mit Gesten näher zu kommen heissen, derweil sie das Spinnzeugs wegräumen.
«Kommt, kommt! Wir haben euch erwartet, aber nicht so früh. In einer Woche vielleicht, oder zwei. Kommt, nehmt mit uns das Abendbrot. Danach könnt Ihr unserer Hütte, die dort drüben steht, übernachten.»
Liebe Kathrin, wie wohltuend es doch ist, in einem heimeligen Zuhause zu sein, zumal wenn ein lustiges Feuer brennt, auf dem ein leckeres Mahl köchelt. Mir ist nicht mehr mulmig zumute, im Gegenteil, ich fühle mich sicher und geborgen.
Ich sitze an einem Holztisch, der aus dem Wurzelstrunk einer alten Eiche gefertigt ist und betrachte die Strukturen seiner Oberfläche, seltsame Muster, die mich an geheimnisvolle Runen erinnern, die ich zu entschlüsseln suche, und Muster, die vielfältig gestalteten Mäandern gleichen.
Ich lausche dem Geplapper der Weiblein, die nun nicht mehr schweigsam sind, wie im Schloss – vor wie vielen Tagen erst? Ach, es kommt mir vor, als wäre wir bereits wochenlang unterwegs! – Was wollte ich gleich noch sagen? Ah, ja. Die Weiblein sind nicht länger schweigsam, sondern sie plappern unentwegt, und ihr Geplapper erinnert mich an ihr Spinnen, vorher vor dem Häuschen. Schnurr, schnurr, schnurr.
Das Plappern lullt mich ein, schon gleite ich in einen Halbschlaf, da horche ich auf, bin augenblicklich hellwach.
«Wie geht es Eurem ehrenwerten Vater, mein Prinz, hat er sich in seinem neuen Stand eingewöhnt?»
Moritz, der schmächtige Stallknecht soll ein Prinz sein? Gut, so schmächtig ist er gar nicht. Aber er soll ein Prinz sein? Ein echter, wahrhafter Prinz?
Episode 8
Wir reiten seit Stunden dahin. Es ist düster und dunkel. Nur ab und zu fällt ein Lichtstrahl auf den Weg. Die Düsternis vertreibt die Lust zu sprechen. Es ist düster und kalt. Und sehr langweilig.
«Zum Glück haben uns die Weiblein wollene Mäntel geschenkt!», versuche ich das Schweigen zu unterbrechen.
«Könnt Ihr nicht ein wenig zaubern?», frägt mich Moritz.
«Jawohl, mein Prinz! Oder muss ich sagen “Herr Graf“? wie wollt Ihr den angesprochen werden, Durchlaucht?»
«Hört auf! Ich möchte nicht darüber sprechen. Ich bin ein Stallknecht basta!»
«Es sind die Weisen Weiblein, die Euch mit “mein Prinz“ angesprochen haben. Sie irren sich nicht, diese Weisen Spinnerinnen!»
«Ihr lasst wohl nicht locker? Nun denn. Damit Ihr Ruhe gebt: Mein Vater hat sein Königreich verloren. Das ist mir recht. Es ist mir lieber, ein einfacher Stallknecht zu sein, als ein Prinz.»
«Hm?»
«Weshalb ich lieber Knecht bin? Schaut doch die Prinzen an. Sie sind verhätschelt. Sie werden die ganze Zeit bedient. Haben fantastische Ideen, die augenblicklich umgesetzt werden müssen. Können nicht zupacken, kaum ein Pferd satteln. Können nicht Holz hacken. Ohne Bedienstete würden sie nicht überleben. Mir aber gefällt es zuzupacken, auch wenn es die niedrigsten Arbeiten sind. Denn Stall kehren, zum Beispiel. Meine älteren Brüder hatten nur Flausen im Kopf. Und eines Tages, hatten sie die grandiose Idee in die weite Welt zu gehen, Abenteuer zu erleben. Waren seither nicht mehr gesehen. Haben meinem Vater das Herz gebrochen», erklärt Moritz mit stetig zunehmendem Zynismus, «Fragt ja nicht, weshalb mein Vater sein Reich verloren hat. Darüber spreche ich nicht.»
Wir reiten weiter. Schweigend. Endlos lange. Endlos monoton lange. Ich beginne über das Wort “Langeweile“ nachzudenken, da unterbricht mich Moritz erneut.
«Zaubert doch ein bisschen!»
«Ist Euch vielleicht langweilig, mein Prinz?», necke ich.
«Wahrlich, Ihr seid eine weise Frau!»
«Nun denn. Die Mäntel, die wir von den spinnenden Weiblein erhalten haben, sind Zaubermäntel. Sie geben nicht nur warm, sondern wenn man sie verkehrt herum anzieht, mit der Innenseite nach aussen, dann wird man unsichtbar!»
Und mit diesen Worten ziehe ich den Mantel aus, was ein waghalsiges Unternehmen ist, sitze ich doch auf meiner Stute und muss die Zügel loslassen, kehre den Mantel von innen nach aussen, was ein noch waghalsigeres Manöver ist, und ziehe den Mantel verkehrtherum an.
Da schreit Moritz auf: «Ich sehe Euch nicht mehr, auch Eure Stute ist verschwunden!»
Ich sehe an mir herunter. Ich bin noch da, auch Morena, die Stute, die jetzt die Ohren aufstellt, als hätte sie etwas Ungewohntes vernommen. «Ihr habt mich beinahe erschreckt! Ich bin noch da! Seht Ihr?»
«Ich sehe Euch nicht, aber ich vernehme Eure Stimme. Wartet, auch ich werde meinen Mantel nun verkehrt herum anziehen.» Moritz ist ein gewandter Reiter. Im Handumdrehen hat er seinen Mantel ausgezogen, gewendet und bereits wieder übergestreift – und verschwindet vor meinen Augen.
«Ich sehe Euch nicht mehr!»
«Seht Ihr, Ihr hattet recht! Es sind Zaubermäntel. Doch etwas ist gar nicht praktisch. Wir sollten uns gegenseitig sehen können, wenn wir unsichtbar sind! Stellt Euch vor, ich würde auf Eure Seite hinüberreiten, und – weil ich Euch nicht sehe – es käme zu einem Zusammenstoss! Könnt Ihr nicht noch das gewisse Etwas dazu zaubern?»
Ich studiere, und studiere, aber ich habe keine Idee.
«Ich hab’s!», ruft mir der unsichtbare Moritz zu, «Zaubert folgende Eigenschaft in die Mäntel. Wenn zwei die Mäntel verkehrt herumtragen, dann bleiben sie einander sichtbar.»
Augenblicklich sehen wir uns gegenseitig.
«Habt Ihr so schnell gezaubert?», fragt Moritz perplex, «Oder war ich das?»
«Ihr könnt es ja versuchen. Zaubert doch den Ruf eines Raben!», necke ich ihn.
Kaum habe ich es gesagt, hören wir einen Raben im Wipfel einer hohen Tanne krächzen. Krähen und krächzen unentwegt. Plötzlich hören wir eine Frauenstimme, die in der Nähe laut schimpft.
«Hör auf du blöder Rabe, du vermaledeiter. Ich habe nun jahrelang Ruhe gehabt und jetzt bist du zurück? Dann hat dich der Kerl wohl nicht gefunden. Stromberg», lacht die Frauenstimme verächtlich, «Keiner weiss, wo Stromberg liegt!»
Moritz und ich sind wie vom Donner gerührt. Behände wenden wir unsere Mäntel und reiten nun für alle sichtbar in Richtung der Stimme, die weiter schimpft und zetert, gelangen zu einem kleinen Häuschen, davor eine alte Frau steht und ihren Besen zückt, als wäre er ein Schwert, und diesen gegen den Himmel stösst und wedelt, als wolle sie den Raben, der jetzt wie wild in der Höhe kreist, sich hinabstürzt, wieder hinauffliegt, dann wieder kreist und dazu anhaltend krächzt, vertreiben oder töten.
«Guten Tag, meine Dame!», Moritz deutet hoch zu Ross eine Verbeugung an.
Das wütende Gesicht der Alten verwandelt sich im Nu in ein freundliches.
«Oh! Guten Tag, Reisende! Schön, Euch zu treffen. Ihr müsst bestimmt hungrig und durstig sein. Tretet nur ein in mein bescheidenes Haus, ich will Euch gerne bewirten.»
«Nein, nein, wir sind weder hungrig noch durstig. Wir müssen auch gleich weiter!», wende ich geschwind ein.
«Ha, das sagen sie alle! Aber wenn sie in meinem Häuschen sind, die Wohlgerüche riechen, das frische Quellwasser vor sich stehen haben und den edlen Wein, dann langen sie alle zu. Alle!»
Moritz und ich sehen uns an, und blinzeln uns zu.
«Die drei Prinzessinnen, habt Ihr sie ebenfalls verköstigt?», das ist jetzt Moritz.
«Prinzessinnen? Ha! Prinzessinnen kommen hier niemals vorbei. Zu weit weg von ihrem trauten Zuhause. Selbst wenn eine hier vorbeikäme, die würde nicht bei mir eintreten!», mit Verachtung, «Mein Zuhause ist denen nicht gut genug. Die wollen Brokat und Zierrat und Bedienstete.»
«Nun denn, kam je ein Bote des Königs vorbei?», fragt wiederum Moritz.
«Ja, das war ganz was anderes. Der war zwar auch nicht hungrig, aber ich habe ihm ein kleines Gefäss mit Waldhonig mitgegeben. Der hat sich tausendmal bedankt dafür.»
Moritz und ich schauen uns bestürzt an, denken offenbar dasselbe.
«Was meintet Ihr vorhin mit Stromberg?», wage ich zu fragen.
«Ich habe nichts von Stromberg gesagt. Was soll das sein?», entgegnet die Alte unwirsch.
«Ich habe gemeint, dass Ihr dem Raben Stromberg zugerufen habt!»
«Ihr irrt!», die Alte scheint wütend, «Schert Euch zum Teufel! Weg von meinem Grundstück! Verschwindet!»
Und während wir unsere Pferde wenden und uns leise davonmachen, hören wir wie die Alte grummelt: «Die Mäntel, sie tragen dieselben Mäntel wie der blöde Kerl, der dreimal eingeschlafen ist und die Rabin wohl nie erlöst hat.»
Episode 9
Schweigend reiten wir von dannen.
«Denkt Ihr dasselbe wie ich?», flüstert mir Moritz zu.
«Dass ein Bote des Königs, den Prinzessinnen den vergifteten Waldhonig gebracht haben könnte? Das wäre die einfachste Erklärung, weshalb die drei Prinzessinnen schlafen. Aber auch nicht. Es macht keinen Sinn.»
«Weshalb denkt Ihr das?»
«Weil ich mir nicht vorstellen kann, was ein Bote des Königs in diesem finsteren Wald verloren haben könnte.»
«Der Wald ist gar nicht so finster! Schaut doch nur!»
Es stimmt. Der Wald ist lichter, als ich ihn beim Hinweg zur Alten in Erinnerung hatte.
«Vielleicht haben wir uns an die Finsternis gewöhnt.»
«Nein, seht doch, es gibt sogar Blümchen, kleine, weisse Blümchen!»
«Das ist Sauerklee. Der erträgt viel Schatten. Aber stimmt, auf dem Hinweg habe ich vergeblich nach Sauerklee Ausschau gehalten.»
«Seht, doch, da steht ein Laubbaum!»
Es stimmt. Ich erblicke unvermutet Laubbäume. Etliche Laubbäume. Buchen, Eichen, Ulmen, Eschen mache ich aus, und an den Wegrändern, wo die Sonne jetzt hinzuscheinen vermag, blühende Büsche, Holunder und Tollkirschen und Brombeeren und ...
«Das ist nicht derselbe Wald wie vorhin hineingeritten sind», stelle ich fest.
«Wir stecken in einer Sackgasse!»
«Nein, das ist keine Sackgasse. Der Weg führt geradeaus weiter. Seht dort vorne wird es hell. Man kann sogar die Kreuzung mit der Linde erahnen...
«Nein, ich meine keine reale Sackgasse, sondern Sackgasse im übertragenen Sinn!»
«Erklärt Euch!», dränge ich.
«Unsere Reise hier in den Süden war umsonst! Das meine ich.»
««Hm, ja, kann sein. Doch lasst uns überlegen, oder vielmehr rekapitulieren was wir Neues erfahren haben.»
«Die drei Weisen Frauen leben in diesem Walde», resümiert Moritz.
«Oder wohnten. Wir sind jetzt beim Rückweg nicht mehr an ihrem Häuschen vorbeigekommen!», wende ich ein.
«Die Alte, welche über irgendeinen Zaubertrank oder Zauberspeise verfügt, hasst Raben», führt Moritz unbeirrt die Aufzählung weiter.
«Ja. Und sie weiss, dass der Rabe, oder wie sie ihn nannte – die Rabin – erlöst werden muss, was ein starker Hinweis ist, dass es sich bei diesem Raben vielleicht um Sophia handeln könnte. Oder auch nicht.»
«Eher nicht. Sonst wäre es schlimm. Sonst hätte die Alte recht und Sophia wäre nach wie vor ein Rabe.»
«Sie hasst Raben, basta», ich möchte das Thema “Rabe“ abhaken.
«Oder sie hasst Raben aus einem ganz bestimmten Grund, den wir nicht kennen.»
«Stimmt. Was wissen wir noch?»
«Sie sprach von einem Kerl, der Stromberg finden muss oder musste oder hätte müssen oder hätte gemusst haben...», er verhaspelt sich.
«Fragt sich nur, weshalb sie das weiss.»
«Sie muss etwas beobachtet oder gehört haben.»
«Sie hat unsere Mäntel erwähnt. Erinnert Ihr Euch?»
«Wenn das stimmt, dann muss der “Kerl“ zuvor bei den Weisen Frauen vorbeigekommen sein! Er hat bei den Weiblein übernachtet und einen Ster Holz gehackt, wie ich es tat.»
«Das ist eher Spekulation, wir können es nicht präzise wissen. Eure gute Geste des Holzhackens in Ehre, aber nicht alle sind so zuvorkommend wie Ihr.»
«Was wir jedoch genau wissen: Aus irgendeinem uns unbekannten Grunde, wollte sie die Erlösung der Rabin verhindern!»
«Das ist wiederum reine Spekulation», resümiere ich.
Unvermittelt sind wir aus dem Wald heraus und bei der Kreuzung angekommen. Der Kreuzung mit der stattlichen Linde und dem Wegweiser mit der seltsamen, vor der alten Frau warnenden Mitteilung Richtung Süden.
Ich möchte mir diese Inschrift nochmals anschauen. Aber da steht jetzt bloss: “Waldhausen“.
«Das ist nicht mehr derselbe Wegweiser!», rufe ich erstaunt aus!
«Nach Süden steht “Waldhausen“», liest jetzt Moritz laut vor, «Nach Nordern nach wie vor “Rieshausen“, nach Westen “Kühwalden“, nach Osten – seht nur, nach Osten heisst es nicht mehr “Himmelsbühl“ sondern “Hier entlang geht es, Reisende, denn zum Schloss nach Hause geht es nun!»
«Oh mein Gott! Was für ein Wegweiser!»
«Ein Wegweiser eben, wie es der Name schön sagt!»
IIch lache auf: «Es stellt sich nur die Frage, werden wir durch den Wegweiser manipuliert? Oder anders gefragt, wer zieht die Fäden hier im Hintergrund?»
Jetzt lacht Moritz: «Was für eine Frage, Teuerste. Ihr seid es, welche die Fäden zieht, Ihr seid hier die Märchenerzählerin.»
«Man kann nicht eine Märchenerzählerin und selbst in der Geschichte verwickelt sein!», widerspreche ich.
«Geht das nicht?», spöttelt Moritz arglos.
«Wollt Ihr zum Schloss zurück, ohne Eure Brüder gefunden zu haben?»
«Nein, eigentlich nicht, aber wenn der Wegweiser es uns heisst?»
Ich gleite von meiner Stute, öffne die Satteltasche und entnehme ihr den Proviant, den uns die Weiblein mitgegeben haben. Frisch gebackenes Brot, das eine vielversprechend knackige Kruste hat, und eine Wurst. Ah! Das tut gut! Das Brot hat einen leichten Geschmack nach ... Safran, weshalb es eine leicht gelbe Farbe hat. Die Wurst – ich nehme einen kleinen Bissen, den ich tüchtig kaue – schmeckt nach Knoblauch, sehr viel Knoblauch, Pfeffer, sehr viel Pfeffer, Wacholder, Rosmarin und ... es ist ein herber Geschmack ... ich komme einfach nicht drauf ... Koriander!
«Aufwachen!»
Ich fahre auf, lasse beinahe die Wurst fallen.
«Ihr wart in Gedanken versunken!»
«Habt Ihr was gesagt?»
«Ich habe Euch gefragt, ob der Küchenjunge die Prinzessinnen erlösen konnte!»
Schon will ich erwidern, dass ich keine Hellseherin sei, da verschlucke ich mich an einem Brosämchen, beginne zu husten und flüstere heiser: «Der Küchenjunge hat einhundert Perlen gefunden. Einhundertsieben, um genau zu sein.»
«Oh, mein Gott! Der arme Junge!»
«Das Los ist auf den Bruder des Fischers gefallen!»
«Das darf nicht wahr sein. Wenn es Theo ist, dann ist er bereits jetzt ein Stein. Theo ist blind, müsst Ihr wissen!»
«Nein, Ihr irrt. Ich sehe Theo, wie er mit den Händen den Waldboden ertastet. Er hat bereits eine Handvoll Perlen gefunden.»
«Wie viel das wohl sein mögen?»
«Zweiundachtzig»
Es ist mir selbst nicht wohl, wie ich als Märchenerzählerin etwas erzähle, was ich gar nicht wissen kann. Der alte Mann, der im Schloss die Rosen pflegt, würde mir jetzt ein paar tröstende Worte zuflüstern, die mich beruhigen. Oder die gute Berta würde mich in der Küche verköstigen, mir eine heisse Schokolade zubereiten oder einen heissen Tee mit Rum. Plötzlich habe ich Heimweh nach dem Schloss.
«Lasst uns eiligst nach Hause reiten!», stammle ich.
«Unverrichteter Dinge?», hänselt mich Moritz.
«Unverrichteter Dinge!», bestätige ich, packe den Rest des Proviants wieder in die Satteltasche, steige – allein! – auf meine Stute und schon geht’s weiter Richtung Osten. Nach Hause. Zum Schloss
Episode 10
Ich blicke auf. Aller Augen sind auf mich gerichtet.
Wir sind gerade rechtzeitig zum Abendbrot zum Schloss gelangt. Ich bin müde von der Reiterei. Wie lange waren wir unterwegs? Zwei Tage? Es kommt mir viel länger vor. Ich spüre ein angenehmes Brennen in den Muskeln. In jedem einzelnen Muskel will mir scheinen.
«Mögt Ihr nicht weitererzählen?», fragt Dagmara, die Kammerzofe, zaghaft.
Nanu? Habe ich etwa etwas erzählt? Mir ist ein wenig wirr im Kopf.
Die Küchenmägde haben bereits das Geschirr abgeräumt und kleine Kekse, süsse und pikante, aufgetischt. Kerzen flackern auf den Tischen. Hier sind die Abende immerzu lau. Trotzdem bin ich froh, dass mich der wollene Mantel wärmt. Der Mantel! Ich sehe verstohlen an mir herunter. Ich muss tatsächlich bei den alten Weiblein gewesen sein, geht es mir erleichternd durch den Kopf. Beinahe hätte ich gedacht, ich hätte das nur erzählt, oder geträumt.
Der alte Mann schenkt mir ein Glas Glühwein ein, als wüsste er, dass ich vorher fröstelte.
«Nun denn», nehme ich den Faden auf, «Um zu verstehen, was bei der Alten los war, und weshalb sie so wütend ist, muss ich ausholen. Weit ausholen.»
Ich merke, wie ich in die Vergangenheit gleite. Schwärze umgibt mich. Dann sehe ich die Mühle beim Bach. Ich möchte aufschreien, um Halt bitten, doch ich entkomme dem Sog nicht. Nicht diesen Faden, bitte, nicht diesen will ich spinnen, flehe ich innerlich. Doch niemand hält mich auf oder an. Es gibt kein Entrinnen. Mylord sieht mich an, und ich spüre, dass ich die Kraft haben werde.
«Es war einmal ein Königreich wie dieses hier. Es gab dort eine Mühle mit einem Müller und einer Müllerin, die eine wunderschöne Tochter hatten. Einmal kam ein abenteuerlustiger Geselle bei der Mühle vorbei, der liess sich einige Tage vom Müller anstellen, denn es war Erntezeit, die ersten Bauern brachten ihr Korn zur Mühle und deshalb gab es viel zu tun. Es kam, wie es kommen musste. Der Geselle verliebte sich unsterblich in die Tochter des Müllers.»
«Wurde seine Liebe erwidert?», erkundigt sich Dagmara.
«Das weiss niemand!», fahre ich fort, «Jedenfalls wollte der Geselle, als seine Zeit beim Müller abgelaufen war, in der Nähe der schönen Müllerin bleiben. Er bewarb sich im Schloss des Königs und wurde zuerst als Knecht eingestellt. Doch weil er sich in allen Dingen so geschickt anstellte, zudem sehr höflich war und gute Manieren hatte, dauerte es nicht lange und er wurde zum ersten Kammerdiener des Königs ernannt.
In jener Zeit war es üblich, dass der König über die Lande reiste und sich im ganzen Königreich zeigte, die Schaf- und Rinderherde begutachtete, auch die Äcker und Obstbäume, Anteil am Schicksal der Leute nahm, da und dort einen Streit schlichtete. Eine solche Reise war wieder angesagt. Es war die Pflicht des ersten Kammerdieners, den König überallhin hinzubegleiten.
Es kam, wie Ihr es Euch denken könnt: am Ende der Reise, führte der Weg einen Bachlauf entlang, wo dann auch die Mühle stand. Der König wurde vom Müller ehrenvoll begrüsst und die Müllerin und ihre Tochter kochten derweil das beste Mahl, das sich ein armer Müller eben gerade noch leisten konnte.
Sie stellten einen Tisch draussen auf, deckten ihn mit dem einzigen weissen Tischtuch, das sie besassen und dem besten Geschirr, und bewirteten so den König und seinen Kammerdiener.
Der Müller war etwas verlegen. Es war ihm peinlich, dass er ein armer Müller war und nichts vorzuzeigen hatte. Diese Tatsache, und vielleicht auch, dass er es nicht gewohnt war, Wein zu trinken, führten dazu, dass er sich unbedacht damit brüstete, dass seine Tochter eine ungewöhnliche Gabe hätte. Sie könne nämlich Stroh zu Gold spinnen. Der Tochter, die zurückgezogen in der Küche gelauscht hatte, fiel beinahe ein Glas zu Boden, das sie in der Hand gehalten hatte und mit einem Lappen zum Glänzen brachte. Der Kammerdiener, dem wohl klar war, dass die Tochter des Müllers diese Gabe nicht besass, blieb beinahe das Herz stehen. Wie kann man nur so dumm sein, dachte er, eine solche Prahlerei zu äussern. Der Müller, der ihm seinerzeit nur ein magerer Lohn geben konnte, wäre ein unermesslich reicher Mann und müsste sich nicht als Müller abplagen.
Der König aber dachte bei sich: Wenn die Tochter das kann, dann bin ich bald der reichste König weit und breit. Zum Müller gewandt sagte er deshalb: “Wenn deine Tochter so geschickt ist, mein Guter, dann bring sie zu uns ins Schloss. Ich möchte sie auf die Probe stellen.»
Ich halte ein, nehme ein Schluck des Glühweins, denn meine Stimme hört sich bereits heiser an.
«Am nächsten Tag wurde die Tochter des Müllers von ihrem Vater ins Schloss geführt.»
«Wie kann er nur!», erschallt da der zornige Ruf des ältesten Prinzen.
«Das ist ganz einfach», erwidert sein Vater, «Einem König nicht zu gehorchen wäre wohl sein Ende gewesen.»
«Wie meint Ihr das?», erkundigt sich jetzt Lucas voll Angst und Bangen.
«Er würde seine Mühle verlieren», erwidert der König, «Oder Schlimmeres».
«Ich würde meine Frau nehmen und meine Tochter und das Weite suchen!», mischt sich Moritz ein.
«Erzählt weiter!», Benjamin ist ungeduldig.
«Die Tochter des Müllers versuchte ihre Angst zu verbergen. Der König aber führte sie in eine Kammer, die war voller Stroh. Ein Spinnrad stand dort, eine Haspel, ein Stuhl. “So, jetzt mach dich an die Arbeit und wenn du bis morgen früh das Stroh nicht zu Gold gesponnen hast, dann musst du sterben“, sagt’s und schloss das Zimmer ab.»
Ein Raunen geht durch meine Zuhörerschaft.
«Die Tochter des Müllers wusste sich nicht zu helfen. Sie setzte sich zu Boden und weinte bitterlich. Am nächsten Morgen würde sie sterben, das war ihr klar.
Da trat der erste Kammerdiener in die Kammer. Denn als erster Kammerdiener hat man ja auch Zugang zu allen Schlüsseln des Schlosses. Er war erschüttert. Die Tochter des Müllers schaute zu ihm auf. Da entbrannte seine Liebe zu ihr noch viel stärker. Stärker jedenfalls als er es je für möglich gehalten hätte.
“Kannst du mir helfen?“, flüsterte die Tochter des Müllers zaghaft, “Ach, was sag ich da! Das wirst du nicht können, niemand kann Stroh zu Gold spinnen!“
Der Glaube kann Berge versetzen, sagt man, eine grosse Liebe ebenfalls. Der erste Kammerdiener setzte auf den Stuhl, nahm das Spinnrad mit seinen geschickten Händen, zog Strohhalme durch – und wie durch ein Wunder drehte sich das Spinnrad von selbst, die Strohalme wandelten sich zu reinen Goldfäden, die Tochter des Müllers sprang auf, eilte ihm zur Hilfe, und wickelte das gesponnen Gold um die erste Spule. Dann um die zweite, dritte, vierte. Jedenfalls war bis zum Morgengrauen alles Stroh zu Gold gesponnen. Die beiden sahen sich an und lachten vor Erleichterung. “Habt Dank! Habt tausend Dank! Ihr habt mir mein Leben gerettet und das meines Vaters ebenfalls! Hier“, sie öffnete die goldene Halskette, die sie einst von ihrer Patin geschenkt bekommen hatte, und gab sie dem Kammerdiener, “Nehmt das als Dank. Mehr habe ich nicht.“
Schon wollte der Kammerdiener abwehren. Doch als er in ihre Augen blickte, die vor Freude und Dankbarkeit tränennass waren, da nahm er die schlichte Kette, öffnete leise die Türe, schloss sie hinter sich ab und eilte davon, tränennass waren auch seine Wangen.»
Episode 11
Ich halte inne. Mein Hals ist so trocken, dass ich kein Wort mehr hervorbrächte, auch wenn ich es noch so wollte. Ich nehme den Becher mit Glühwein und nehme einen Schluck. Der Trank rinnt wärmen und klärend durch meine Kehle.
Aller Augen sind auf mich gerichtet. Es ist still. Nur da und dort ein leises Seufzen.
«Wie konnte er nur!», stöhnt Magdalena auf.
«Ihr meint den Kammerdiener, dass ihm dieses Wunder gelang?», meldet sich die Königin zu Wort.
«Nein, wie konnte der König so, so...»
«So unmenschlich hart sein?», beendet Dagmara Magdalenas Satz.
«Und alles nur des Goldes wegen!», seufzt Irene, die zweite der Kammerzofen.
«Ich bin froh, hier meiner Königin dienen zu dürfen. In einem Königshaus, wo Milde und Güte herrscht.», das ist Dagmara, «Doch erzählt doch weiter, liebe Märchenerzählerin, spannt uns nicht länger auf die Folter!»
«So lasst sie doch sich zuerst erholen!», bestimmt Mylord, der nach wie vor mir gegenübersitzt und mich genau beobachtet.
Ich knabbere an einem der Kekse. Ach, wie köstlich er ist! Ein bisschen scharf, mit Ingwer, Pfeffer und Kümmel. Erst jetzt gewahre ich, wie hungrig ich bin.
Da meldet einer der Kammerdiener zu Wort: «Leute. Wir müssen für morgen das Los ziehen!», sagt’s und nimmt einen Behälter mit Zetteln. «Benjamin, jetzt seid Ihr an der Reihe.»
«Ich will nicht. Ich will nicht, dass noch einer sich zu einem Stein verwandelt!», entgegnet dieser.
«Es geht um unsere Schwestern!», erinnert ihn Lucas.
«Dann werde ich die Aufgabe lieber selbst lösen!», schluchzt Benjamin.
«Das funktioniert so nicht, mein lieber Junge, aber komm mit in die Küche, ich habe eine Überraschung bereit!», versucht die gute Köchin Berta, Benjamin auf andere Gedanken zu bringen. Was wirkt, denn er jubelt: «Eine Überraschung? Darf ich raten?» und schon eilt er davon.
Erneut ergreift der Kammerdiener das Wort: «Wer soll denn nun das Los ziehen?»
Dagmara steht auf, und mit den Worten «Ich mache es!», greift sie in den Behälter, welcher der Kammerdiener ihr geschwind hinhält, nimmt einen der Zettel heraus und liest vor: «Leonhard, der Schmied.»
Schweigen, Stille. Ergriffenes Schweigen, ergriffene Stille. Der Schmied, ein gewaltig grosser und breiter Mann steht auf, verbeugt sich und sagt: «Ich danke für diese Ehre.», und setzt sich wieder.
Mylord, lächelt mir zu: «Bereit den Faden weiter zu spinnen?» Denn inzwischen ist auch Benjamin wieder zurück, gefolgt von Berta, die ein Schüsselchen Milchreis trägt, Milchreis mit Vanille und Zimt.
Ich warte, bis sich die beiden gesetzt haben. Ich bin bereit, obwohl mir davor graut.
«Am Morgen kam der König, sperrte die Kammer auf und ward beinahe geblendet ob all dem gesponnenen Gold. Oh, wie er sich freute, über diesen unverhofften Reichtum. Doch er wurde noch viel goldgieriger, führte die schöne Tochter des Müllers zuerst in die Küche, damit sie sich mit Speis und Trank kräftigen konnte, danach aber führte er sie in eine noch grössere Kammer, die bis zur hintersten Ecke voll mit Stroh gefüllt war und sprach: “Spinn dieses Stroh zu Gold, wenn dir dein Leben lieb ist.“ Sprach’s, kehrte sich um und verschloss die Türe wie tags zuvor.
Die Tochter des Müllers setzte sich auf den Boden und weinte. Selbst wenn der gute Kammerdiener sich wieder einfinden sollte, so eine Menge Stroh zu Gold zu spinnen war menschenunmöglich. Während sie weinte, öffnete der Kammerdiener die Türe, denn wiederum gelang es ihm, den Schlüssel an sich zu nehmen. Es tat ihm im Innersten weh, die Müllerstochter so verzweifelt zu sehen. Niemals hätte er gedacht, dass sich seine Liebe zu ihr, noch steigern könnte, aber so war es. Sein Herz bebte und zitterte. Er setzte sich auf den Stuhl, ergriff das Spinnrad, das wie von selbst zu drehen begann. Es kam Leben ins Stroh. Halm für Halm bewegten sich auf das Spinnrad zu und wie von selbst verwandelten sie sich zu Goldfäden. Die Tochter des Müllers kam kaum noch mit, die Fäden über die Spulen zu wickeln. Doch auch hier vollzog sich ein Wunder, denn als sie nach einer neuen Spule griff, da rollten sich die Goldfäden wie von selbst um die Spulen.
Noch vor dem Morgengrauen ward kein einziger Strohhalm mehr zu sehen. Der Kammerdiener und die Tochter des Müllers atmeten vor Erleichterung auf, schauten sich lächelnd an. “Habt Dank! Habt tausend Dank! Ihr habt mir wiederum das Leben gerettet und das meines Vaters auch! Hier“, sie zog einen kleinen, goldenen Ring vom Finger, der einst ihre Grossmutter ihr geschenkt hatte und reichte ihn dem Kammerdiener, “Nehmt das als Dank. Mehr habe ich nicht.“
Wiederum wollte der Kammerdiener abwehren. Doch als er in ihre Augen blickten, die vor Freude und Dankbarkeit tränennass waren, da nahm er das Ringlein, öffnete leise die Türe, schloss sie hinter sich ab und eilte davon, tränennass waren auch seine Wangen.»
Ich halte inne. Atemlose Gespanntheit ringsum.
«Jetzt müssen wir für heute Schluss machen!», schreitet die gute Berta ein, «Nicht nur der Schmied sollte nun schlafen gehen, um morgen fit zu sein. Wir alle. Auch die Märchenerzählerin...»
Sie wird unterbrochen. Man könne nun unmöglich bis morgen warten, wird gerufen. Die drei Prinzen skandieren: «Weiter, weiter, weiter!».
Ich ergebe mich. Trinke nochmals zwei, drei Schlucke des heissen, würzigen Weins. Esse nochmals ein paar der schmackhaften Kekse. Der Ingwer darin und der Pfeffer, brennen mir im Halse.
Aller Augen sind auf mich gerichtet. Mylord lächelt mir aufmunternd zu.
«Nun denn. Am Morgen schliesst der König die Kammer auf und bleibt auf der Schwelle staunend stehen. So viel Gold hat noch niemals ein König je gesehen. Aber er war noch immer nicht des Goldes satt. Er brachte die Tochter des Müllers in die Küche, wo sie die gute Köchin in Empfang nahm und mit erlesenen Gerichten und kostbarem Wein zu stärken versuchte. Denn die Köchin kannte den König wohl und sein gnadenloses Herz.
Und richtig. Der König erschien schon bald und führte die Tochter des Müllers zu einer noch viel grösseren Kammer, sicher drei Mal so gross, wie die beiden ersten Kammern zusammen. Da blieb der Tochter des Müllers beinahe das Herz stehen. “Falls du es schaffst, dieses Stroh bis morgen früh zu Gold zu spinnen, dann nehme ich dich zu meiner Gemahlin!“ Denn er dachte bei sich: “Wenn’s auch nur eine arme Müllerstochter ist, aber eine reichere Frau finde ich in der ganzen Welt nicht mehr.“ Er gab der verstörten Tochter des Müllers einen Stoss, so dass sie taumelte, herrschte sie an, sie soll jetzt endlich in die Kammer verschwinden, und schloss hinter ihr die Türe dreimal ab.
Die Tochter des Müllers war ganz verzweifelt. “Da kann mir nicht einmal das grösste Wunder helfen“, dachte sie bestürzt, “Das wird meine letzte Nacht hier auf Erden sein.“ Sie begann bitterlich zu weinen. Bald schon schloss der erste Kammerdiener des Königs die Türe auf und blieb wie angewurzelt stehen. Auch ihm war sofort klar, dass kein Wunder auf Erden hier zu helfen vermochte. Aber seine Liebe entbrannte mit solcher Glut, dass sie die ganze Kammer erleuchtete. Da erwachten die Strohhalme, flogen durch die Luft, durch das Spinnrad, das schurr, schnurr, schnurr sich von allein drehte und die Halme zu Goldfäden spann, die wiederum sich gleich selbst um die Spulen wickelten. Aber ach! Auch dieses Wunder hätte niemals gereicht, es war so viel Stroh in der Kammer. Da griff die Nacht selbst ein. Sie dehnte sich, streckte sich, aus Sekunden wurden Minuten, aus Minuten Stunden. Gerade noch rechtzeitig, als das erste Morgenglimmen fern am Horizont zu erahnen war, ja, gerade in diesem Moment war kein Strohhalm mehr zu sehen.
Erschöpft und unendlich erleichtert, lächelten sich der Kammerdiener und die Müllerstochter zu. Beide hatten vor Freude und Dankbarkeit tränennasse Augen. Die Müllerstochter wollte noch sagen, dass sie nun nichts mehr hätte, um ihm zu schenken, sie hätte ja nur das eine Kettchen und den einen Ring gehabt. Er, der das erahnte, wollte erwidern, sie hätte noch ihr Herz, das sie verschenken könnte, da begann die Morgenglocke der kleinen Kapelle zu läuten. Der Kammerdiener eilte erschrocken zur Türe, sperrte sie auf, drehte sich ein letztes Mal um, sah ihr in die Augen, die ihn anblickten und wie er meinte, ahnte, hoffte, voller Liebe anblickten, da musste er sich abwenden, die Tür hinter sich schliessen, denn schon eilte der König herbei.
Dieser hatte nämlich die ganze Nacht nur unruhig und kaum richtig geschlafen, denn er hatte wilde Träume von Gold und Reichtum und Macht und als er nun endlich, in aller Früh atemlos die abgesperrte Tür öffnete, da war sein kühnster Traum Wahrheit geworden. Die Tochter des Müllers hatte alles Stroh zu Gold gesponnen.
Er hätte jauchzen mögen vor lauter Glück. Da nahm er die Hand der schönen Tochter des Müllers, streifte ihr einen kostbaren, goldenen Ring, in welchen sieben kleinen Diamanten eingelassen waren, über den mittleren Finger, schaute sie an und sagte: “Noch heute wirst du meine Frau werden, noch heute soll Hochzeit gefeiert werden!“ Und in aller Eile wurde ein Bote zum Pfarrer geschickt, damit dieser die Trauung vorbereiten konnte.
Dem ersten Kammerdiener wart das Herz schwer, so unendlich schwer. Er fühlte sich zerrissen und verzweifelt. Am Boden zerstört. Der König, der von der Not seines Dieners keine Ahnung hatte, beauftragte ihn, das ganze Hochzeitsprozedere zu organisieren.
So hiess der treue Kammerdiener, Boten durchs Land reiten, um die Hochzeitsgäste in aller Eile einzuladen, hiess die Knechte und Mägde die Kapelle aufs Vortrefflichste zu schmücken. beratschlagte sich mit der Köchin, was zur Hochzeit aufzutischen sei, holte aus dem Keller die besten Weine und legte dem König zuallerletzt die königliche Hochzeitsgarderobe zurecht.
Daraufhin ging in seine Kammer, zog seine vornehme Kammerdienerkleidung aus, nahm jene Kleider aus dem Kasten, mit denen er einst im Schloss eingetroffen war. Er schlich sich heimlich davon und ward im Schloss bis auf den heutigen Tag nie mehr gesehen.»
Episode 12
Liebe Kathrin, wieder ist es Morgen, wieder einmal stehe vor den Schlossmauern und lasse mich von den ersten Sonnenstrahlen wärmen. In der Ferne schreit ein Hahn. Hühner gackern. Von irgendwoher höre ich das Meckern vieler Schafe. An den Wegrändern haben über Nacht Färberkamillen ihre goldgelben Blütenköpfchen geöffnet, dazwischen blüht scharlachroter Mohn. Die ganze Welt erscheint frühlingsfrisch und friedlich.
Ich fühle mich benommen. Taub.
Gestern Abend – was sage ich da! – gestern Nacht! – als meine letzten Worte verklungen waren, da wart Stille. Ich erkannte in den Gesichtern, die mich umgaben, Fassungslosigkeit und Entsetzen. Sodann begann die Königin zu weinen. Es war, als würde ein Damm brechen. Weinen, Schluchzen ringsum. Da und dort einige erzürnte Ausrufe.
Ich wurde von allen Seiten mit Fragen bestürmt. Ob die Heirat dann stattgefunden hätte, ob die Königin den ersten Kammerdiener nicht vermisst hätte, ob sie ihn geliebt habe oder nicht, ob sie den grausamen König...
Da hat die gute Berta eingegriffen. Sie nahm mich kurzerhand beim Arm und führte mich von dannen, geradewegs in den Palast, geradewegs in meine Kammer, die ich immer bewohne, wenn ich hier weile. Ein Schlummertrunk stand auf dem Nachttischchen, ein Tee mit beruhigenden Kräutern. Ich war so müde. Ich schlief sofort ein.
Jetzt schlendere den Weg entlang, der um die ganze Schlossmauer herumführt. Es ist so verworren, das Ganze hier. Die Geschichte steckt fest, irgendwie. Die drei Prinzessinnen schlafen nach wie vor, eingeschlossen in ihrer Kammer, Sophia bleibt verschwunden.
«Grübelt Ihr?», spricht mich plötzlich Moritz an.
«Ha! Ihr habt mich erschreckt. Verfolgt Ihr mich etwas?»
«Nein, ich wollte bloss einen Morgenspaziergang machen.»
«Ja, ich grüble, denke nach, sinniere...»
«Die Geschichte steckt fest, habe ich recht?»
«Hm.»
«Ihr seid mundfaul heute Morgen! Seht doch nur, wie schön hier alles ist! Schaut die Schafherde da vorne. Wie die Lämmchen fröhliche Hüpfer machen. Das nenn ich pure Lebensfreude! Da hüpft mir gleich mein Herz im Leibe.»
Tatsächlich steht weiter vorne ein Hirte am Wegesrand, der seine Schafherde beobachtet, ein Hund an seiner Seite, nein zwei, die ihre Blicke ebenfalls unentwegt auf die Herde richten. Es sind die Schafe, die ich schon von Weitem gehört habe.
«Habt Ihr gehört? Theo hat siebenundachtzig Perlen gefunden!»
«Hm. Drei mehr als gestern Morgen.»
«Das war nicht aufmunternd. Tut mir leid.»
«Hm.»
«Mit Euch ist nicht gut Kirschen essen, heute Morgen!»
«Hm.»
«Oh, erinnert Ihr Euch an den schmackhaften Kirschkuchen?»
«Ja, und erst die Rosinenbrötchen und Laugenbrötchen am Morgen darauf!»
«Ah, endlich seid Ihr aufgetaut! Kommt, wir gehen zurück. Das Frühstück ist bestimmt bereit und alle warten gespannt auf die Fortsetzung der Geschichte», mit einem ängstlichen Blick zu mir, «Es gibt doch eine Fortsetzung, oder nicht?»
«Hm.»
«Ist das ein Ja oder ein Nein?»
«Ich weiss es nicht, mein Prinz!»
«Wagt es nicht, ich bitte Euch!»
«Ich werde schweigen, nichts von Eurer würdevoller Lordschaft offenbaren. Aber sagt, wie geht es Eurem Vater? Ist er froh, Euch zurückzuhaben?»
«Ich weiss es nicht!»
«Ihr wisst es nicht?»
«Ich spreche nicht mit ihm.»
«Ihr sprecht nicht mit ihm?»
«Ihr müsst mir nicht nachplappern. Ich gehe ihm aus dem Weg. So ist es.»
«Hm!»
«Ja, also gerade lustig seid Ihr heute nicht! Ihr müsst Euch ein wenig gute Laune zaubern.»
Ich will ihm erwidern, dass ich meine Gefühle nicht wegzaubern kann. Aber er hat recht. Vielleicht wird mich ein ausgedehntes Frühstück auf andere Gedanken bringen. Wir machen rechtsumkehrt, stapfen den Weg zurück zum Tor, dann in den Schlosshof, wo der Apfelbaum in voller Blüte steht, die Tische darunter, gedeckt. Der ganze Hofstaat freut sich über das Frühstück und wartet derweil auf die Märchenerzählerin, wie es scheint.
Da flüstert mir Moritz zu: «Seht Ihr, Ihr habt gezaubert! Da stehen Körbchen mit Rosinenbrötchen und Laugenbretzel, genau wie im Gasthof, Ihr erinnert Euch?»
Ich lache auf! «Ich weiss wer da gezaubert hat. Das wart Ihr! Ihr habt bestimmt Magdalena bezirzt und Ihr von den herrlichen Brötchen erzählt»
«Seht Ihr, Ihr könnt nicht nur zaubern, sondern auch Gedanken lesen!»
Aller Augen sind auf mich gerichtet. Mein Magen ist jetzt zwar wohlig gefüllt, ich bin satt, aber ich weiss nach wie vor nicht, wie und wo ich beginnen soll. Bei der frisch getrauten Königin? Nein, da bleibt alles Dunkel in mir. Nun denn.
«Der erste Kammerdiener des Königs, der nun wieder ein einfacher Mann war, irrte durch die Lande, liess sich da und dort als Knecht verdingen»
«In demselben Land, wo die schöne Müllerstochter jetzt Königin ist?», fragt Vinzenz.
«Nein weiter weg. Er war durch drei Königreiche gezogen...»
«Hat die Müllerstochter den König wirklich geheiratet?», unterbricht mich Dagmara, die Kammerzofe, ungläubig.
«Das musste sie wohl!», erklärt die Königin unwirsch, «Was denkst du, was sonst geschehen wäre!»
«Der König wäre zornig geworden!», das ist Irene, die zweite Kammerzofe.
«Der König hätte sie umbringen lassen!», mischt sich Vinzenz aufgebraucht ein.
«Sie musste sich fügen, hatte keine Wahl!», beendet die Königin die Diskussion.
«Sie musste sich fügen.», wiederholt Dagmara fassungslos.
«Nun denn», nehme ich den Faden wieder auf, «Der Kammerdiener...»
«Hat er denn keinen Namen?», will Magdalena wissen.
«Nun, der Name tut nichts zur Sache!», versuche ich die Geschichte voranzubringen, «Nun denn, der Kammerdiener, Knecht, Kerl, Mann, ganz wie Ihr wollt, gelangte nach Jahren des Umherirrens in einen dunklen Wald. Einmal da hörte er Frauengeplapper und ging den Stimmen nach. Er gelangte zu einer Lichtung, wo ein Häuschen stand, davor drei Spinnerinnen, die auf eigenartiger Weise spannen! Die eine zupfte die Wolle aus einem Korb, die zweite befeuchtete das Garn und die dritte spann den Faden. Es waren die drei Spinnerinnen, die auch die drei Weisen Frauen genannt werden. “Ihr kommt wie gerufen, sprach eines der Weiblein, wir können einen Gesellen gut gebrauchen.“
So kam es, dass der Kerl, Knecht, Mann bei den Spinnerinnen blieb, das kaputte Dach neu deckte, drei Ster Holz zerkleinerte, den Herd putzte, auch den Kamin, all die Dinge reparierte, die im Laufe der Zeit Schaden nehmen. Zuletzt grub er einen mächtigen Baumstrunk aus und fertigte davon eine Tischplatte. Die Oberfläche des Tisches hat wunderliche Muster, die es sonst bei Tischplatten, die aus Holz eines Stammes gefertigt sind, nicht gibt. Ja, fast hätte ich’s vergessen: Zuerst, zuallererst, baute er sich ein kleines Holzhäuschen, damit er nicht in der kleinen Hütte der drei Spinnerinnen übernachten musste. Darüber freuten sich die drei Weiblein ausserordentlich. “Ein Gästehäuschen!“, riefen sie begeistert, “Jetzt können wir von nun an vorüberziehenden Reisenden ein Obdach anbieten!“
Eines Tages sagten die drei Weiblein ihrem tüchtigen Gesellen “Es wird Zeit, dass Ihr weiterzieht. Als Dank schenken wir dir diesen wollenen Mantel. Er wird dir dienlich sein, denn du hast noch eine weite Reise vor dir und der Mantel kann Kälte und Nässe fernhalten.“
So machte sich der Knecht, Kerl, Geselle wieder auf den Weg, eingehüllt in seinen grauen Mantel, gelangte immer tiefer in den dunklen Wald.
Eines Tages hörte er einen Raben immerzu rufen...»
«Raben krähen und rufen doch nicht!», unterbricht mich Benjamin.
«Was auch immer, aber dieser Rabe hat gerufen und gerufen. Der Kerl, Knecht, Mann ging der Stimme nach...»
«Raben haben doch keine Stimme!», das ist jetzt Lucas.
«Wie immer es auch war, jedenfalls ist der Kerl, Knecht, Mann der Stimme, die ihn gerufen hatte, nachgegangen. Und als er dem Raben endlich näherkam, sprach der Rabe ihn an: “Ich bin eine Königstochter von Geburt und wurde verwünscht, aber du kannst mich erlösen...»
«Der Rabe ist unsere Schwester!», ruft Benjamin aufgeregt, «Mutter, bald kommt unsere Sophia wieder nach Hause und du musst nicht mehr traurig sein!»
«Du Dummerchen, sie muss doch erst noch erlöst werden! Sie ist doch noch ein Rabe! Hörst du eigentlich nicht zu!»
Meine nächsten Worte: «Da fragt der Kerl, Knecht, Mann: “Was soll ich tun, um dich zu erlösen?“», gehen im allgemeinen Tumult unter.
Episode 13
Es ist wieder mucksmäuschenstill. Die chaotische Aufgeregtheit hat sich endlich gelegt. Aller Augen sind erwartungsvoll auf mich gerichtet.
«Nun denn. Der Kerl, Knecht, Mann fragte den Raben: “Was soll ich tun, um dich zu erlösen?“ Sie sagte: “Gehe weiter in den Wald. Du wirst ein Haus finden, darin sitzt eine alte Frau, die wird dir Essen und Trinken reichen, aber du darfst nichts nehmen. Wenn du etwas issest oder trinkst, so verfällst du in einen Schlaf und du kannst mich nicht erlösen. Im Garten hinter dem Haus ist eine grosse Lohhucke, darauf sollst du stehen und mich erwarten. Drei Tage lang komme ich jeden Mittag um zwei Uhr zu dir in einem Wagen, der ist erst mit vier weissen Hengsten bespannt, dann mit vier roten, und zuletzt mit vier schwarzen. Wenn du aber nicht wach bist, sondern schläfst, so werde ich nicht erlöst.“
Der Kerl, Knecht, Mann versprach alles zu tun, was sie verlangt hatte. Die Rabin aber sagt: “Ach, ich weiss es schon, du wirst mich nicht erlösen, du nimmst etwas von der Frau!“
Da versprach der Kerl, Knecht, Mann noch einmal, er wolle gewiss nichts anrühren, weder von dem Essen noch dem Trinken.
Wie er aber zu dem Haus kam, trat die alte Frau heraus und sagte zu ihm: “Armer Mann, was seid Ihr abgemattet. Kommt und erquickt Euch, esset und trinket.“
“Nein“, sagte der Kerl, Knecht, Mann, “Ich will nicht essen und nicht trinken.“
Sie liess ihm aber keine Ruhe und sprach: “Wenn Ihr dann nicht essen wollt, so tut einen Zug aus dem Glas. Einmal ist keinmal.“
Da liess er sich überreden und trank.
Nachmittags gegen zwei Uhr ging er hinaus in den Garten auf die Lohhucke und wollte auf die Rabin warten. Wie er da stand, ward er auf einmal so müde, er konnte es nicht überwinden und legte sich ein wenig nieder. Doch er wollte nicht einschlafen. Aber kaum hatte er sich niedergestreckt, da fielen ihm die Augen von selber zu, und er schlief ein und schlief so fest, dass ihn nichts auf der Welt hätte erwecken können.»
Stille. Raunen.
«Wird er nun schlafen, wie unsere Schwestern?», fragt Benjamin verzagt.
«Muss er erlöst werden?», das war jetzt Lucas.
«Wird jemand die Weisen Frauen holen, damit die sagen können, wie er erlöst wird?», das ist Vinzenz.
Ach, liebe Kathrin. Es ist verflixt. Nie kann ich meine Geschichten in einem Stück erzählen. Immerzu werde ich unterbrochen. Und dann wieder den Faden aufnehmen ist manchmal beinahe unmöglich. Was genau genommen natürlich nicht stimmt. Gestern Abend zumindest war es beinahe totenstill, die ganze Zeit über, bis tief in die Nacht hinein. Aber jetzt hat eine hitzige Diskussion begonnen. Du solltest sie sehen und hören, die Prinzen, Mägde, Knechte, Kammerzofen, sogar der Schatzmeister sehe ich leidenschaftlich gestikulieren.
«Haltet ein!», ruft Vinzenz ungeduldig und ungestüm in die Runde, «Wie kann es denn sein, dass unsere Schwestern von ebendieser Alten hätten vergiftet werden können? Der Knecht oder Kerl ist ja durch drei Reiche gezogen, also weit weg von hier. Es ist völlig unmöglich, dass unsere Schwestern, die Prinzessinnen, von ebendieser Frau Speis oder Trank hätten annehmen können. Sagt mir, ja sagt, wie das hätte zustande kommen sollen?»
Stille. Raunen.
Da meldet sich einer der königlichen Boten. «Ich. Das ist meine Schuld», stammelt er verzagt, «Ich war unterwegs letzte Woche. Ich hatte einen besonderen Botendienst zu erledigen, weitab. Da kam ich im Wald an einem Haus vorbei, wo eine alte Frau mir freundlich zuwinkte, und mich einlud, mit ihr zu speisen. Doch ich war schon viel zu spät dran, was ich ihr erklärte. Sie gab mir ein kleines Gefäss mit Waldhonig mit, welches ich in der Satteltasche verwahrte. Ich bedankte mich bei ihr und als ich dann glücklich zurückkam und meinen Botendienst beendet hatte, da schenkte ich den Waldhonig den Prinzessinnen. Ich wollte ihnen eine Freude bereiten, wusste ich doch, ja, jeder hier weiss es, dass die drei Prinzessinnen wahre Schleckmäuler sind. Sie lieben Honig über alles, vor allem den dunklen, leckeren Waldhonig. Ihr hättet Ihre Gesichter sehen sollen, sie strahlten. Alle drei.»
Stille. Raunen.
«Nein, Ihr seid nicht schuld! Ihr konntet nicht wissen, dass der Honig verzaubert oder vergiftet war. Es war eine sehr nette Geste von Euch!», entscheidet entschieden der König.
«Sie müssen den ganzen Honig aufs Mal gegessen haben!», schlussfolgert Vinzenz.
«Es ist ein Zufall. Ein schrecklicher Zufall!», schlussfolgert Magdalena.
«Vielleicht auch nicht», das ist Magdalena, die tüchtige Küchenmagd, die jetzt nachdenklich um die Tische herumwandert. Aller Augen schauen gespannt zu ihr hin. «Überlegt doch. Der Knecht oder Kerl begegnet der Rabin, die, wie wir vermuten, Sophia ist. Er will sie erlösen und muss bei einer alten Frau, Speis und Trank ausschlagen, damit er nicht in einen tiefen Schlaf fällt. Und der königliche Bote reitet bei einer alten Frau vorbei, die ihn einlädt bei ihr zu speisen, ihm aber, da er in Eile ist, Honig mitgibt? Wir haben zwei Übereinstimmungen. Zum einen ist die Rabin, also Sophia, die ältere Schwester der Prinzessinnen. Zum anderen ist da eine Frau, die mit ihren Speisen und Getränken Menschen zum Schlafen bringt. Das kann kein Zufall sein.» Jetzt hat Magdalena den Tisch umrundet. «Vielleicht klärt sich das eine oder andere im Verlauf der Geschichte?»
Und hiermit liegt es an mir, den Faden weiter zu spinnen.
«Um zwei Uhr, wie vorausgesagt, kam die Rabin mit vier Hengsten gefahren, aber sie war schon voller Trauer und sprach: “Ich weiss, dass er schläft.“ Und als sie in den Garten kam, lag er auch da auf der Lohhucke und schlief. Sie stieg aus dem Wagen, ging zu ihm und schüttelte ihn und rief in an, aber er erwachte nicht.»
«Das ist aber ganz und gar unlogisch!», ruft Vinzenz, «Wenn sie doch schon weiss, dass er schlafen wird, warum hat sie ihm denn aufgetragen, dass er sie erlöst?»
«Weil sie hofft!», entfährt es der Königin, «Weil sie die Hoffnung nicht aufgibt!»
«Die arme Sophia! Wenn du nur je einmal erlöst wirst!», klagt Dagmara.
«Wenn es nur ein gutes Ende nimmt!», klagt auch Irene.
Episode 14
«Nun denn, wenn Ihr erlaubt, dann lasst mich weitererzählen.»
«Nein, wartet! Ein Rabe kann doch weder eine Kutsche fahren noch durch den Garten zu dem Kerl hingehen – also gehen, nicht hüpfen – und zudem hat die Rabin den schlafenden Kerl geschüttelt!», interveniert jetzt der aufmerksame Vinzenz, «Die Rabin muss Menschengestalt haben!»
«Sie ist erlöst, unsere Schwester ist erlöst!», jubelt Benjamin.
Wiederum Diskussionen, bis man allgemein übereinkommt, dass Sophia ihre Gestalt offenbar ändern könne, doch sie müsse noch erlöst werden. Eine andere Interpretation sei nicht stichhaltig. Basta.
Ich versuche, den Faden erneut aufzunehmen.
«Am nächsten Tag zur Mittagszeit kam die alte Frau wieder und brachte dem Kerl Speis und Trank, aber er wollte diese nicht annehmen. Aber sie liess ihm keine Ruhe und redete ihm so lange zu, bis er wieder einen Zug aus dem Glase tat. Gegen zwei Uhr ging er in den Garten auf die Lohhucke und wollte auf die Rabin warten, da empfand er auf einmal so grosse Müdigkeit, dass seine Glieder ihn nicht mehr hielten: Er konnte sich nicht helfen, musste sich legen und fiel in tiefen Schlaf. Als die Rabin daherfuhr mit vier braunen Hengsten, war sie schon in voller Trauer und sagte: “Ich weiss, dass er schläft.“ Sie ging zu ihm hin, aber er lag im Schlaf und war nicht zu erwecken.»
Jemand weint. Es ist Dagmara. Sie stammelt: «Es ist eine so traurige Geschichte. Alles. Die Königin, welche einen Mann heiraten muss, der goldgierig ist und sie nur zur Frau nimmt, weil sie ihm so viel Stroh zu Gold gesponnen hat, nicht, weil er sie liebt. Der Kammerdiener, der ebendiese Königin, nein nicht Königin, das war sie ja gar nicht, sie war ja die Tochter eines armen Müllers... Wie dem auch sei, der Kammerdiener, der sie so sehr liebt, irrt jetzt unglücklich durch die Wälder, und Sophia lebt im Nirgendwo und ihre drei jüngeren Schwestern, von deren Existenz sie jedoch nichts weiss, wurden von derselben alten Hexe, ja es ist eine Hexe, diese Alte, in einen tiefen Schlaf versetzt, wie der Kammerdiener jetzt in Schlaf versetzt wurde, und somit kann er Sophia nicht erlösen. Ach, das ist alles so traurig, so abgrundtief traurig, dass es zum Weinen und Heulen und Verzweifeln ist.»
Dagmara geht der Atem aus. Aber sie weint nicht mehr, weshalb ich den Faden hoffnungsvoll wieder aufnehme.
Am anderen Tag sagte die alte Frau, was das wäre? Er ässe und tränke nichts, ob er denn sterben wollte? Der Kerl, Knecht antwortete: “Ich will und darf nicht essen und nicht trinken.“ Sie stellte aber die Schüssel mit Essen und das Glas mit Wein vor ihm hin, und als der Geruch davon zu ihm aufstieg, so konnte er nicht widerstehen und tat einen starken Zug.»
«Oh, nein!», ruft Vinzenz zornig, «Wie dumm ist der denn?»
«Still! Wir wollen hören, was weitergeschieht!», das ist Magdalena.
«Als die Zeit kam, ging er hinaus in den Garten auf die Lohhucke und wartete auf die Königstochter: Da ward er noch müder als die Tage vorher, legte sich nieder und schlief so fest, als wäre er ein Stein.»
«Ein Stein! Merkt Ihr es auch? Er ist jetzt ein Stein, wie Franz, der Jäger, Louis, der Küchenjunge, Theo, der Bruder des Fischers und bestimmt auch Sigmund, der Schmied!», das ist erneut der aufgeregte, aufmerksame Vinzenz.
«Still! Wir wollen hören, was weitergeschieht!», das ist nochmals Magdalena.
«Was soll schon geschehen. Unsere Schwester wird nicht erlöst. Das geschieht,»
«Lasst die Märchenerzählerin weiterfahren», es ist das erste Mal, dass Mylord eingreift, worauf es sofort still wird. Ich nicke ihm dankbar zu.
«Um zwei Uhr kam die Rabin und hatte vier schwarze Hengste, und die Kutsche und alles war schwarz. Sie war aber schon voller Trauer und sprach: “Ich weiss, dass er schläft und mich nicht erlösen kann.»
«Ich verstehe es nach wie vor nicht, weshalb sie schon voller Trauer ist, bevor sie ihn erreicht hat!», Vinzenz scheint sehr wütend zu sein.
«Wenn man nicht damit rechnet, dass etwas gut gehen wird, dann ist man weniger enttäuscht», erklärt die Königin.
«Wie traurig!», mischt sich Dagmara ein.
«Und doch versucht es die Rabin wieder und wieder», wendet Magdalena ein.
«Sie hofft! Sie hofft auf eine gute Wendung», das ist nochmals die Königin.
«Als sie zu ihm kam», fahre ich fort, «lag er da und schlief fest. Sie rüttelte ihn und rief ihn, aber sie konnte ihn nicht aufwecken. Da legte sie ein Brot neben ihn hin, dann ein Stück Fleisch, zum dritten eine Flasche Wein, er konnte von allem so viel nehmen, wie er wollte, es ward nicht weniger. Danach nahm sie einen goldenen Ring von ihrem Finger, und steckt ihn an seinen Finger, da war ihr Name eingegraben. Zuletzt legte sie einen Brief hin, darin stand, was sie ihm gegeben hatte, und dass es nie all würde, und es stand auch darin: “Ich sehe wohl, dass du mich hier nicht erlösen kannst, willst du mich aber noch erlösen, so komm nach dem goldenen Schloss von Stromberg. Es steht in deiner Macht, das weiss ich gewiss.“ Und wie sie ihm das alles gegeben hatte, setzte sie sich in ihren Wagen und fuhr in das goldene Schloss von Stromberg.»
Ich halte kurz inne, horche, doch niemand sagt etwas, niemand will kommentieren, eine Frage stellen, etwas einwenden. Erwartungsvolle Stille.
«Als der Mann aufwachte und sah, dass er geschlafen hatte, ward er von Herzen traurig und sprach: “Gewiss, nun ist sie vorbeigefahren, und ich habe sie nicht erlöst.“ Da fielen ihm die Dinge in die Augen, die neben ihm lagen, und er las den Brief, darin geschrieben stand, wie es zugegangen sei. Also machte er sich auf und ging fort, und wollte nach dem goldenen Schloss von Stromberg, aber er wusste nicht, wo es lag.»
Episode 15
Wiederum ein Tumult, eine Aufgeregtheit. Die Prinzen wollen am liebsten gleich die Koffer packen und mit einer Kutsche nach Stromberg aufbrechen. Der König hält dagegen, dass man ja seit jeher nicht wisse, wo Stromberg liege. Aber immerhin wisse man jetzt, dass Stromberg im Norden liege, wendet einer der Stallknechte ein. Die Küchenmägde schwirren währenddessen herum, räumen das Frühstücksgeschirr weg, putzen die Tische. Ich mittendrin.
Moritz flüstert mir mit einem Zwinkern zu: «Kommt, wir machen uns davon. Wir satteln unsere Rosse und reiten zum “Weissen Rössle“. Wir haben dem Wirt doch versprochen bei ihm auf dem Rückweg vorbeizuschauen. Das haben wir nicht getan. Zudem: Versprechen muss man halten.»
«Es gab keinen Rückweg. Wir sind nach Osten geritten, hierher zurück, nicht nach Norden!», erinnere ich ihn ebenso leise sprechend.
«Ihr tadelt mich?»
«Nein, ich ...»
«Seht Ihr, Ihr wolltet mich belehren!»
«Hm, wir können hier nicht weg!»
«Sagt wer?»
«Hm, wer A sagt, muss auch B sagen?»
«Soll heissen was?»
«Wenn man eine Geschichte beginnt, muss man sie zu Ende erzählen!»
«Vielleicht gehört unser Ausritt zur Geschichte?»
«Hm.»
«Kommt schon. Die Geschichte ist zwar lang und traurig, wirklich herzerschütternd, doch sie hat keinen Wank getan! Meine Brüder habe ich nicht gefunden und die Prinzessinnen warten auf ihre Erweckung.»
«Ihr meint, wir sind keinen Schritt weiter?»
«Kommt, nur einen oder zwei Tage. Wenn wir jetzt aufbrechen, sind wir zum Abendbrot bei der Kneipe, und morgen früh gibt es ein herrliches Frühstück!»
«Ihr denkt nur an Euren Magen!»
«Aber der Kirschkuchen hat Euch geschmeckt?»
«Der Kirschkuchen! Ihr habt recht. Ein Ausflug, um einen solch fabelhaften Kirschkuchen zu kosten! Der ist eine Reise wert!»
Wir schleichen abenteuerlustig davon. Zum Stall, wo Moritz in aller Eile die beiden Rosse sattelt, dann in die Küche eilt und sich von Magdalena, der er wohl ein Schweigegelübde abgenommen haben muss, geschwind Proviant einpacken lässt – man weiss ja nie! – dann entfliehen wir durch den Stall, verlassen durch das rückwärtige Tor das Schloss und seine Begrenzungen.
So reiten wir dahin, wie tags zuvor – nein zwei Tage – zuvor.
«Weshalb reitet Ihr stets die schwarze Stute des Prinzen?», frage ich neugierig.
«Ha, das ist nicht die Stute des Prinzen. Das ist meine Stute», erklärt Moritz stolz, «Ich habe sie gerettet...»
«Aber Ihr wollt nicht sagen, weshalb Euer Vater sein Reich verlor. Ist gut. Ihr braucht nichts zu erklären.»
«Könnt Ihr nicht ein wenig zaubern?»
«Wozu soll das dienen?»
«Das wir schnurstracks bei der Kneipe sind!»
«Ach, Ihr seid ungeduldig? Dabei ist doch der Weg das Ziel!»
«Der Weg soll das Ziel sein? Ihr redet wirr. Wir haben ein anderes Ziel. Das Wirtshaus!»
«Das ist eine Art Spruch, eine Weisheit, wenn Ihr wollt. Der Spruch will sagen, dass wir den Weg geniessen sollen. Oder anders gesagt, wir sollen jeden Moment geniessen, es könnte sein, dass wenn wir das Ziel erreichen, dieses nicht das Erwartete bringt», versuche ich zu erklären.
«Ihr seid von Sinnen. Den Weg geniessen! Soll ich etwa die Steine auf dem Weg essen? Mein Ziel ist die Kneipe, ein leckeres Abendbrot und Kirschkuchen. Das werde ich so richtig geniessen können. Zusammen mit einem erlesenen Wein.»
«Nein», setze ich an. Aber es ist zu kompliziert, liebe Kathrin, Moritz zu erklären, wie sehr ich beispielsweise es geniesse auf einem Pferd zu sitzen und im Trab zu reiten. Den milden Frühlingswind auf meiner Haut zu spüren und die liebliche Landschaft zu betrachten, all das Neue, dass ich darin fortwährend entdecke. Hier die leuchtend blau blühenden, mannshohen Wegwarten am Rande des Weges etwa. Und wenn ich in die Weite schaue, all die vielen bewaldeten Hügel und Anhöhen, dazwischen die Frühlingswiesen und Äcker, wo die ersten Halme von Roggen oder Gerste die Krumen des Bodens durchbrechen. Blühender Holder bei jedem Bauernhaus. Kinder, die in den Wiesen Ringelreihen singen.
«Träumt Ihr?»
«Nein, ich habe... mich gewundert, über all das Wundersame hier!»
«Manchmal redet Ihr merkwürdig, irgendwie.»
«Hm.»
«Meint Ihr nicht auch, dass etwas geschehen muss? Eine Wende, welche die Geschichte vorwärtsbringt?»
«Da vorne, seht Ihr, da wandern zwei lustige Gesellen dahin. Vielleicht... Nanu?»
«Schnell, schnell, versteckt Euch. Hinter dieser Hecke hier!», und schon ist Moritz vom Pferd geglitten und führt es hinter die Hecke, ich ihm nach.
«Was ist los? Ihr seid ja aschfahl»
«Meine Brüder! Die zwei Gesellen sind meine Brüder!»
«Eure Brüder, die Ihr suchen und finden wolltet?
«Ja!»
«Aber weshalb verstecken wir uns? Habt Ihr etwa Eure Meinung geändert?»
«Nein. Vielleicht doch.»
«Erklärt Euch, ich bitte darum!»
«Es kommt mir zu überraschend. Ich habe mich auf den Ausflug mit Euch gefreut, auf das Abendbrot im “Weissen Rössle“. Auf ein paar kurzweilige, lustige Stunden.»
«Dann könnten doch Eure Brüder einfach mitkommen!»
«Auf keinen Fall!», ruft da Moritz vehement.
«Weshalb?»
«Mit denen ist nicht gut Kirschen essen.»
«Und Kirschkuchen?»
«Noch viel weniger. Ich mag nicht darüber sprechen. Das verdirbt mir noch den ganzen Tag!»
«Eure Brüder wandern nach Norden. Vielleicht ist es Eure letzte Gelegenheit, sie zu finden?»
«Dann ist es so. Dann finde ich sie eben nicht!», sagt Moritz trotzig.
«Wenn wir einen Umweg nehmen, querfeldein reiten vielleicht, dann müsstet Ihr Euren Brüdern nicht begegnen.»
«Hm. Ich muss überlegen. Wenn wir jetzt ein Stück nach Nordosten reiten, dann sollten wir auf einen alten Handelsweg gelangen. Weiter nördlicher führt dann ein schmaler Saumpfad Richtung Nordwest. Aber es dauert viel länger, bis wir zum “Weissen Rössle“ gelangen», er schaut mich an, überlegend, wehrweisend, «Wenn wir galoppieren würden? Aber das geht nicht, Ihr seid, mit Verlaub, dafür seid Ihr zu alt. Ich will damit sagen: mit nur zwei Tagen Erfahrung auf dem Rücken eines Pferdes, und dann bereits im Galopp reiten, das schafft nur ein junger, kräftiger Kerl», er schaut mich noch nachdenklicher an, «Doch wenn Ihr ein bisschen zaubern würdet?»
«Ihr meint eine Kreuzung vielleicht, mit einem Wegweiser?»
Ich schaue mich um. Keine Kreuzung weit und breit. Aber ich gewahre etwas anderes. Die Hecke grenzt an ein Wäldchen und ich habe einen Wildwechsel entdeckt. Es ist mehr ein Erahnen als ein Sehen.
«Manchmal braucht man nicht zu zaubern oder Märchen zu erzählen!», und ich zeige Moritz, was ich erblickt habe.
Der beginnt schallend zu lachen: «Das ist kein Wildwechsel. Da ist jemand durchgegangen. Da vorne beginnt ein schmaler Waldweg. So abwegig ist es nicht, einfach durch das Wäldchen zu reiten. Versuchen wir es!» Und schon sitzt Moritz auf seiner schwarzen Stute und verschwindet zwischen den Bäumen. Ich muss mich sputen, damit ich ihn einhole.
Episode 16
Wie gerne würde ich dir jetzt berichten, dass wir zu einem geheimnisvollen Waldweiher gelangten, in welchem eine Nixe aus dem schwarzen Wasser auftauchte, uns bezirzte und verhexte, wir ihr aber mit einer List im allerletzten Moment entfliehen konnten. Oder dass wir eine geheimnisvolle Mühle erreichten, wo Wichtel oder Feen kein Korn, sondern Liebe mahlten, die sich dann in der Welt auf ebensolch geheimnisvolle Weise ausbreitete. Aber so war es nicht.
Der Ritt durch das Wäldchen war abenteuerlich gewiss, der Weg, den wir entdeckt hatten, war nämlich eine Sackgasse, so ritten wir weiter ohne Weg noch Steg. Doch das Wäldchen war kein unergründlicher, geheimnisumwitterter Wald, in welchem man sich hoffnungslos verirren konnte, sondern nur ein kleines, harmloses Gehölz, weshalb wir bald schon ins Freie ritten, bald durch Wiesen, voll blühender Apfel- und Birnbäume, bald an Bauernhöfen vorbei, wo wie eh und je Hühner und Gänse frei herumgackerten und herumwatschelten und Kinder fröhlich spielten. Immer weiter ging es, querfeldein.
Wie gerne würde ich dir erzählen, dass meine Pferd, als wir wieder zwischen Obstbäumen durchritten, und ich, in einen Augenblick der Unaufmerksamkeit, da mein Blick in die Ferne schweifte, über die zauberhafte und friedliche Landschaft, ja in diesem Moment des Leichtsinns nicht merkte, dass mein Ross, unter den Zweigen eines Kirschbaums trottete, ich mit Erstaunen einen Zweig im Gesicht spürte, schlimmer noch, die Zweige mich vom Pferd herunterrissen, ich meinen linken Fuss im letzten Moment aus dem Steigbügel nehmen konnte, mit dem erschreckenden Gedanken, ich könnte darin hängen bleiben und so mitgeschleift und schlimmer noch, vom Pferd zertrampelt werden, mich dann fallen liess, hügelabwärts, wo ich einen Atemzug lang liegen blieb, zu Moritz blickte, der schallend zu lachen begann, ich alsdann flugs wieder aufstand, aufs Pferd stieg, das inzwischen seelenruhig Gras und Blumen frass, ich aber, meine zahlreichen Kratzer ignorierend, wagemutig zu Moritz zurief, “so, jetzt ist es Zeit, jetzt will ich im Galopp weiterreiten“. Aber so war es auch nicht.
Vielmehr war es so, dass wir immer querfeldein an Wiesen und Äcker vorbeiritten, nicht im Galopp, wie ich’s mir so fabelhaft ausgemalt hatte, sondern brav trottend, an Wäldchen vorbei, wieder über Wiesen, schon befürchte ich, wie würden die Kneipe nie erreichen, da taucht sie vor uns auf, von der orange glühenden Abendsonne in ein warmes, goldenes Licht getaucht.
Der Wirt steht unter der Tür, die weisse Schürze umgebunden. Wartend. Er erblickt uns und sein Gesicht beginnt zu strahlen.
«Euch habe ich viel zu verdanken!», sagt er, derweil er mit einem Lappen den Tisch draussen abwischt, und uns mit einer Geste einladet, uns zu setzen. «Seid Ihr hier wart, kommen viel mehr Gäste. Es hat sich herumgesprochen, dass Ihr das geheimnisvolle Schloss von Stromberg sucht, und versprochen habt, auf Eurem Rückweg hier vorbeizukommen. Die Leute lieben Geschichten.»
Die Tochter des Wirtes erscheint, tischt das Geschirr auf, ein Junge – der Küchenjunge? – sattelt unsere Pferde ab, bringt diesen Hafer und einen Eimer Wasser. Währenddessen erscheinen Wirt und Tochter erneut, stellen einen Topf mit Gemüsesuppe vor uns hin, dazu ein Körbchen mit Brötchen, eine Platte mit Käse und Wurst, ein Krug Wasser und ein Krug leichten Weins, der darf offenbar niemals fehlen.
Der Wirt setzt sich, zu uns hin, derweil wir mit dem Mahl beginnen.
«Habt Ihr Eure Brüder gefunden?», fragt der Wirt unverhohlen neugierig und interessiert.
Moritz verschluckt sich, beginnt zu husten, japst nach Luft: «So halbwegs.»
«Was soll das heissen, halbwegs. Entweder man findet oder findet nicht!», staunt der Wirt.
«Wie ich’s sagte: Halbwegs. Ich sah sie von Weiten!», druckst Moritz heraus.
Während ich mir eines der Brötchen mit Butter bestreiche, einen Bissen nehme und danach fleissig die köstliche Gemüsesuppe löffle, muss ich mir das Lachen verkneifen. Der Wirt nimmt Moritz wegen seiner Brüder in die Zange. Mal gespannt, wie sich Moritz da herauswindet.
«Ihr saht sie von Weitem? Und konntet sie nicht einholen?», fragt der Wirt fassungslos.
«Ich war in jenem Augenblick nicht gelaunt, sie zu treffen.»
«Aber Ihr habt doch den weiten Weg auf Euch genommen, um sie zu suchen. Das verstehe ich nun ganz und gar nicht!», sagt der Wirt entgeistert, «Das müsst Ihr mir erklären!»
«Mit meinen Brüdern ist nicht gut Kirschen essen!»
«Ah, sie sind unangenehme Gesellen? Meint Ihr das so?»
«Unangenehm ist hochgradig untertrieben!»
«Aber Ihr müsst sie doch geliebt haben, sonst wäre es Euch kein Anliegen gewesen, sie zu suchen!»
«Ich suche sie, weil ich es meinem Vater versprochen habe. Nur deswegen. Aber jetzt müsst Ihr hören, was wir inzwischen herausgefunden haben!», lenkt Moritz vom Thema ab.
So beginnt Moritz alles zu erzählen, was sich in den letzten beiden Tagen zugetragen hat. Der Wirt hört interessiert zu, stellt ab und zu eine Frage, tischt den leckeren Kirschkuchen auf, bringt mehr Wein, stellt noch mehr Fragen, hört noch interessierter zu. Andere Gäste kommen hinzu, werden von der Tochter des Wirtes bedient, stellen ebenfalls Fragen, hören noch interessierter zu, und bevor wir uns versehen, bricht die Dämmerung herein. Der Wirt tischt Kaffee und Schnaps auf. Moritz erzählt und erzählt. Seine Stimme wird rauer, heiser, da bringt die Frau des Wirtes eine Kanne mit wohlschmeckendem, heissem Glühwein.
Ich höre mit halbem Ohr zu, starre die Tischplatte an und muss an die wundersamen Strukturen des Tisches in der Hütte der Weiblein denken, mit den Runen und Mäandern, die Tischplatte, von der ich heute weiss, der der Kerl, Knecht, Namenlose sie aus dem Strunk eines Baumes gefertigt hat. Diese hier muss aus dem Holz eines Ahorns gemacht sein. Die helle, matte Oberfläche zeugt von fleissigem Putzen und Fegen.
Ich will Moritz schon vorschlagen, für heute Schluss zu machen, mit den Erzählungen morgen weiterzufahren, da höre ich laute, leicht angeheiterte Stimmen. Es sind zwei Männer, zwei Hallodris, die an unseren Tisch treten.
«Wer ist denn da?», dröhnt der ein, «Sehe ich das richtig?»
«Oh, unser Dummling sitzt mitten in der Gästeschar und macht sich wichtig!», höhnt der zweite.
«Unser kleiner, dummer Bruder!», spottet der erste.
Moritz verstummt und erbleicht, mir fällt das Herz in die Hosen. Das darf doch nicht sein. Der Abend war so schön. Jetzt ist eingetroffen, was wir vermeiden wollten.
Der Wirt schaut auf, erfasst die Situation sofort, steht auf, geht auf die Brüder zu: «Guten Abend, Reisende! Es freut mich sehr Euch zu begrüssen. Es ist zwar schon spät, die Küche hat geschlossen, doch wenn Ihr Euch hier hinsetzt», mit diesen Worten führt der Wirt die Überrumpelten an einen der Nebentische am Rande des Vorplatzes, «werde ich mich persönlich darum kümmern, dass Ihr noch etwas Warmes in den Magen kriegt. Der Kirschkuchen ist auch nicht alle, der wird Euch schmecken.»
Derweilen hat die flinke Tochter bereits Wein und Brot geholt und auf den Tisch gestellt, schenkt beiden je ein Glas voll ein.
«Wir sind Prinzen, von edlem Geschlecht!», will der eine die Wirtstochter beeindrucken.
Jetzt wird Moritz wütend. Er schnellt auf, ist mit zwei, drei Schritten bereits am Tisch seiner Brüder und brüllt: «Ihr wart Prinzen. Ihr habt das Recht, Prinzen zu sein, vor langer Zeit verwirkt!»
«Oh, unser Brüderchen gönnt es uns nicht!», hohnlächelt der eine.
Oh, der Stallknecht will uns zurechtweisen!», hohnspottet der andere.
Da aber schreite ich ein, nehme Moritz beim Arm, ziehe in fort, sehe gerade noch, dass der Wirt jetzt die sagenhaft köstlichen Würste auftischt und ein knackig krustiges Brot, ziehe Moritz in die Gaststube hinein, derweil ich gerade noch höre, wie der erste uns nachschreit, dass das Brüderchen wohl keine Eier in den Hosen hätte, dass er sich so mir nichts, dir nichts von einer Frau wegführen lasse. Da sind wir in der guten Gaststube und setzen uns hin. Moritz atmet schwer. Die Wirtin schenkt ihm einen Schnaps ein. Mir ebenfalls. Ich atme erleichtert auf.
«Das Los!»
«Das Los! Ich hätte es beinahe vergessen!»
«Nun, wie viele Perlen hat der blinde Theo noch gefunden?»
Ich zögere, ich bin noch nicht gänzlich zur Ruhe gekommen. Nehme noch einen Schluck. «Leonhard der Schmied hat siebenundsechzig Perlen gefunden.»
«Und das Los?»
«Das Los fiel auf...»
«Nun sagt schon!»
«Ich weiss es nicht. Auf niemanden.»
Episode 17
Das Los ist auf niemanden gefallen, liebe Kathrin, weil sich niemand mehr zur Verfügung gestellt hat. Alle haben sie ihre Anträge oder Bewerbungen oder ihr sich-zur-Verfügung-Stellen, wie immer man es nennen möchte, zurückgezogen. Was verständlich ist, allzu verständlich.
Franz, der Jäger, Louis, der Küchenjunge, Theo, der Bruder des Fischers, und Sigmund, der Schmied stehen nämlich lebensgross, wie aus grauem Marmor gehauen, im Wald des Schlosses. Dort, wo das eine der Weisen Weiblein die Perlen verstreut hat, dort, wo die Wagemutigen diese gesucht hatten und beim Sonnenuntergang zu Stein verwandelt wurden. Keiner wagt es mehr in den Schlosswald zu gehen. Zu schrecklich ist der Anblick dieser Steinmenschen.
Die Prinzen, die sonst zu allerlei Streichen und Abenteuer bereit sind, schleichen kleinlaut durch den Hof. Über ihre einstigen Pläne, Sophia zu suchen, äussern sie kein Wort mehr.
Aber das können wir nicht eigentlich nicht wissen, denn wir sind weit weg, im Gasthof zum “Weissen Rössle“, wo sich die Brüder von Moritz in einer Scheune ihren Rausch ausschlafen. Der Wirt hat ihnen gestern Nacht den besten Wein aufgetischt, diesem konnten sie nicht widerstehen, danach Schnaps und nochmals Schnaps.
Wir, Moritz und ich, sitzen vor der Kneipe, am Tisch, wo jetzt die ersten Sonnenstrahlen hin scheinen und lassen es uns schmecken.
«Hört Ihr, wie sie schnarchen?», die Wirtin stellt uns eben die zweite Kanne Kaffee hin, «Ich habe Euren Brüdern gestern eine gehörige Dosis Baldrian in den Schnaps getan, dazu etwas Bilsenkraut und eine Prise Giftlattich. Noch ein, zwei Stunden werden sie tief und fest schlafen. So könnt Ihr in aller Ruhe aufbrechen.»
Moritz, der eben die Tasse an den Lippen hatte, verschluckt sich und hustet: «Oh! Ich werde mich wohl hüten müssen, damit ich Euch ja nicht verärgere, Gnädigste!»
«Keine Angst, mein Herr, ich werde Euch immer nur harmlose Gewürze in die Speisen und Getränken mischen. Harmlos und schmackhaft! Ich hätte diese Nacht auch etwas Baldrian oder Lavendel gebraucht. Ich konnte kaum schlafen. Das Schicksal dieser Königin wider Willen hat mich sehr erschüttert. Ja auch das Schicksal der anderen Königin, die dort lebt, wo Ihr dient», sie nickt Moritz zu, «und Ihr Euch aufhaltet», jetzt schaut sie zu mir herüber, «sie muss sich vor Kummer quälen. Vier Töchter, von denen sie nicht weiss, ob sie je erlöst werden. Das ist hart. Manchmal da denkt man doch, man habe es selbst hart, aber wenn man so was hört, ja da merkt man erst, wie unglaublich gut man es hat. Wie das Schicksal gnädig war. Ich will Euch aber nicht langweilen.»
Mit diesen Worten steht sie auf, bringt uns eine Schale mit frischen Erdbeeren und frische, kühle Sahne aus der Küche und verschwindet wieder im Haus.
Kathrin, sie hätte uns nicht gelangweilt und ich verstehe nicht, weshalb sie nicht von ihrem Gusti, dem Wirt, erzählt hat. Wie sie sich schon als junge Frau in ihn verliebt hatte und er sich in sie. Wie sie glücklich sei mit ihm und ihren sieben Töchtern. Dass die beiden jüngsten, die Zwillinge seien, ihr im Gasthof behilflich seien. Die eine backe schon frühmorgens frisches Brot, Brötchen und Kuchen, die andere bediene vor allem die Gäste. Die fünf älteren Töchter, alle tüchtige Frauen, hätten je einen anderen bodenständigen Beruf ergriffen. Ja, das und vieles mehr hätte sie erzählen können, die gute Frau. Wir hätten gerne zugehört.
Während ich noch so vor mich hin sinne, ruft Moritz plötzlich: «Seht doch nur! Da kommen drei riesige Gestalten daher. Solche habe ich noch nie gesehen! Die sind bestimmt zwei bis drei Köpfe grösser als der grösste Mensch, den ich je gesehen habe. Es müssen Riesen sein!»
Bei Gott, Moritz hat recht. Die drei Gestalten schreiten mit imposant grossen Schritten daher, direkt auf den Gasthof zu. Sie wirken etwas unförmig und unproportioniert, beinahe plump, was aber im krassen Widerspruch zu ihrem leichtfüssigen, fast federnden Gang steht. Sind es Männer? Sollten wir uns vor ihnen fürchten? Nein, sie lächeln und nicken uns freundlich zu.
Der Wirt erscheint, erschrickt sichtlich, fasst sich ein Herz und begrüsst die drei. «Willkommen in meinem Gasthof. Möchtet Ihr hier tafeln?»
Da lacht der eine der Riesen, ein dröhnend lautes Lachen: «Tafeln, hat er gesagt, habt Ihr gehört? Tafeln sagt man hier! Wir wollen etwas vertilgen, Herr Wirt, so sagt man bei uns. Bringt uns Fleisch und Brot und Wein, von allem aber das Doppelte!», mit einem Blick auf die winzigen Stühle, «Wo können wir uns hinsetzen, Herr Wirt? Die Stühle sind nicht geeignet.»
«Setzt Euch auf die Bank hier, die ist aus massivem Holz gefertigt. Meine beiden Gäste hier werden gerne etwas zur Seite rücken.»
Mit den beiden Gästen sind Moritz und ich gemeint. Wir stehen auf und setzen uns auf Stühle an einen anderen der Tische, direkt gegenüber den Riesen. Die Wirtin und ihre Tochter eilen uns zur Hilfe, nehmen das Geschirr, Kannen und Körbchen und tragen alles an unseren neuen Platz.
«Wir sind auf Reisen!», erklärt uns der eine Riese mitteilsam, «Wir wollen unserem Kleinen die Welt zeigen. Wir haben den Kleinen bis letztes Jahr gesäugt, jetzt ist er kräftig genug für eine weite Reise. Wir kommen vom fernen Norden, müsst Ihr wissen.»
Moritz verschluckt sich beinahe an einer Erdbeere.
«Wenn Ihr aus dem entlegenen Norden kommt, wisst dann zufällig, wo das Schloss Stromberg liegt?», erkundige ich mich.
«Haha! Stromberg, habt Ihr das gehört? Sie will wissen, wo Stromberg liegt!», der Riese lacht so laut, dass ich mir die Ohren zuhalte.
«Hoho, haha, Stromberg! Erinnerst du dich, wie wir in allen alten Karten gesucht haben, ob irgendwo Stromberg eingezeichnet ist? Ich zuerst, ich habe alle Karten durchschaut, die wir im Kasten in der Stube und in meiner aufbewahrten. Bis du nach Hause kamst und in deiner Kammer gesucht hast. Du hast gesucht und gesucht und gesucht. Stromberg, haha, hoho!»
Sie sprechen in Rätseln, die Eltern des “Kleinen“, der gar nicht klein ist, sondern so gross wie Moritz oder der Wirt, aber Stromberg scheint sie sehr zu amüsieren.
«Stromberg! Du hast den Kerl eine Stunde lang auf deinen Schultern hingetragen, nein gerannt bist du, bis einhundert Meilen von Stromberg entfernt. Dann musstest du umkehren, zurückkommen, um unseren Kleinen zu säugen. Der hatte damals noch Windeln getragen!»
Moritz und ich sitzen da, einmal mehr wie vom Donner gerührt.
Episode 18
Diese Riesen sind komische Kerle. Nicht weiblich, nicht männlich, mit eigenartigem Äusseren und eigenartigen Manieren. Sie scheinen sich köstlich über uns zu ergötzen, seit wir sie nach dem Schloss von Stromberg gefragt haben.
Inzwischen haben die Wirtin und ihre beiden Töchter, die sich, nebenbei gesagt, wie ein Ei dem anderen gleichen, den Riesen allerlei Speisen aufgetischt. Drei mächtige Schinken, von denen jeder eine Familie eine Woche oder mehr satt werden lassen könnte, Schüsseln mit Kartoffelklössen, Brote, und Krüge mit Wein. Die Riesen essen direkt aus den Schüsseln und trinken direkt aus den Krügen.
«Könnt Ihr nicht etwas detaillierter erzählen, warum Ihr in den Karten nach Stromberg gesucht habt?»
«Oh, sie fragt nach dem Kerl!», lacht der eine.
«Das war so», erläutert der zweite, «Ich war allein zu Hause mit unserem Kleinen. Der da», er deutet auf den zweiten Riesen, «war ausgegangen, um Lebensmittel zu holen. Ich war wie gesagt allein zu Hause und hatte Hunger. Ich hatte so schrecklich grossen Hunger, dass ich laut heulte und jammerte, so dass man mich bestimmt im Umkreis von einigen Meilen gehört haben muss. Da kam ein Kerl zu unserem bescheidenen Haus und ich wollte ihn verspeisen. Der Kerl aber hat gesagt, ich solle das ruhig bleiben lassen, er würde sich nicht gerne verschlucken lassen, er hätte genügend Lebensmittel bei sich, dass ich auch satt würde. “Wenn das wahr ist, so kannst du gerne bleiben“, sagte ich zu ihm, “ich wollte dich nur verzehren, weil ich nichts anderes habe.“
So gingen wir ins Haus, setzten uns an den Tisch und der Kerl packte Brot, Wein und Fleisch aus seinem Ranzen und tischte es auf. Ich ass nach Herzenslust. Weder das Brot noch Fleisch noch der Wein wurden alle. Das gefiel mir sehr.
Als ich satt war, fragte der Kerl mich: “Könnt Ihr mir sagen, wo das goldene Schloss Stromberg liegt?“ Da habe ich die Landkarte aus dem Schrank geholt, auf dieser Karte sind alle Städte und Dörfer und Häuser eingezeichnet, aber das Schloss Stromberg war nicht zu finden. “Macht nichts“, habe ich dem Kerl gesagt, “in meiner Stube oben habe ich eine grössere Landkarte, die will ich holen. Darauf wollen wir suchen.“ Aber auch hier suchte ich vergeblich. Der Kerl wollte aufbrechen und weiterziehen. Aber ich sagte zu ihm: “Wartet noch ein paar Tage, bis mein Bruder nach Hause kommt. Der hat noch bessere Karten.“ So blieb der Kerl, was nicht übel war, konnte ich mir doch jeden Tag den Bauch vollschlagen.»
Er nimmt einen kräftigen Schluck Wein aus der Kanne.
«Als ich nach Hause kam», fährt der zweite Riese fort, «habe ich mich sehr gewundert, dass mein Bruder so fröhlich war und keinen Hunger hatte. Er hat mir vom Brot, Wein und Fleisch erzählt, welche nicht alle werden. Ich habe dann auch nach Herzenslust gegessen und getrunken. Wir wurden beide fröhlich, haben gelacht, haha, hoho – ich muss jetzt noch lachen, wenn ich dran denke – wir haben so lange gelacht, bis unsere Bäuche weh taten.
Dann ging ich in meine Kammer hinauf und habe alle Karten heruntergeholt, die ich im Kasten fand, aber Stromberg war nirgends zu finden. Ich habe dann noch eine sehr alte Karte aus dem Speicher geholt, auf der endlich das Schloss Stromberg eingezeichnet war. Es war aber viele Tausend Meilen weg. Da war der Kerl ganz verzagt und hat gesagt: “Wie soll ich nur je dahin kommen?“ Ich habe ihm geantwortet, ich hätte gerade noch zwei Stunden Zeit, so könne ich ihn in die Nähe des Schlosses tragen. Dann aber müsse ich wieder zu Hause sein, um unser Kind zu säugen, das wir hätten. Ich trug den Kerl bis etwa einhundert Meilen vom Schloss entfernt, liess ihn nieder und sagte zu ihm: “Den übrigen Weg kannst du wohl allein gehen“. Ja, so bin ich dann nach Hause zurückgekehrt.»
Wir haben gebannt zugehört. Moritz sieht mich freudig an: «Stromberg», flüstert er, «Vielleicht können die Riesen uns erklären, wo das genau liegt.»
«Wir würden gerne nach Stromberg reisen, nicht sofort, aber in den nächsten Tagen», erkläre ich den verdutzten Riesen, «Könnt Ihr uns sagen, wie wir am besten dorthin kommen?»
Die Riesen schauen sich gegenseitig entgeistert an, dann brechen sie in Gelächter aus.
«Niemand kann zum Schloss Stromberg gelangen. Es ist viel zu weit entfernt. Ausserdem gibt es nur eine einzige, alte Karte, wo das Schloss eingezeichnet ist. Und die Karte befindet sich bei und zu Hause im Kasten in meiner Kammer.», erklärt einer der Riesen.
«Ausser», fährt der zweite fort, «ausser ich trage Euch hin. Aber das geht leider nicht. Wir wollten doch dem Kleinen die Welt zeigen.»
«Aber so ungefähr die Richtung könnt Ihr uns zeigen?», Moritz lässt nicht locker.
«Ha, ha, die Richtung will er wissen! Das geht nur mit der Karte, Bübchen!», das war wieder der erste der Riesen.
«Weshalb wollt Ihr denn unter allen Umständen zum Schloss Stromberg?»
Und jetzt, liebe Kathrin, erzählt Moritz eifrig die ganze Geschichte. Nicht die ganze. Nur der Teil der verzauberten Sophie und wie der Kerl, Knecht oder wie auch immer er sich nennen mag, die Rabin alias Sophia erlösen möchte. Es gibt ein langes hin und her. Ein Nachfragen und Nachforschen. Ich beteilige nicht mich an den Ausführungen, betrachte lieber diese liebliche Landschaft.
Der Gasthof liegt auf einer kleinen Anhöhe. Vor mir liegt eine Wiese mit Obstbäumen... Da geht jählings ein Gezeter los. Es sind Elstern, die auf dem Dach des Gasthofs wie wild hin und her hüpfen, zetern und schreien. Eigenartig, was da wohl vor sich geht? Da sehe ich die beiden Brüder von Moritz, wie sie – offenbar haben sie ihre Räusche ausgeschlafen – Kieselsteine auf die Elstern werfen. Die Elstern bleiben jedoch auf dem Dach und fliegen nicht fort, zetern unentwegt und hüpfen wie wild umher. Ah, und jetzt weiss ich auch weshalb. Gleich neben dem Gasthof steht eine mächtige Espe. Die sich eben erst entfaltenden, rötlichen Blätter des Baumes vermögen den aus vielen Ästen bestehenden Horst der Elstern nicht ganz zu verdecken. Die beiden Elstern versuchen wohl die beiden Brüder vom Nistplatz abzulenken.
Jetzt steht Moritz auf, geht mit zwei drei ausholenden Schritten auf die Brüder zu und heisst sie energisch und mit entschiedener Stimme, sofort aufzuhören.
«Kommt, wir reisen ab. Ich habe keine Lust mich mit diesen Lümmeln abzuplagen!», tut er mir kund.
«Und Stromberg?»
«Die Weltreise der Riesen dauert nur wenige Tage. Sie wollen ihrem Kleinen aber beim grossen See im Süden das Schwimmen beibringen, beim Nachhauseweg kommen sie zum Schloss.»
«Zu unserem Schloss?»
«Ja, das war seit jeher ihr Plan.»
«Sie wären also so oder so zu uns gekommen?»
«Sagen sie jedenfalls.»
Episode 19
Wir brechen auf. Auch heute will der Wirt nichts von Bezahlung wissen. Unsere Geschichten würden seine Gäste aufs Vortrefflichste unterhalten. Das habe sich herumgesprochen und er hätte nun oft dreimal so viele Kundschaft wie früher.
Moritz Brüder wollen sich davonmachen, ohne die Zeche zu bezahlen. Der Wirt kennt kein Pardon. Zuletzt klauben sie ihre letzten Taler zusammen und begleichen ihre Schuld. Anscheinend sind sie beinahe pleite.
Wir reiten dahin. Durch das friedliche, liebliche Land mit den unzähligen Hügeln, Wäldchen, Weilern. Schwalben schnellen pfeilgeschwind durch die Lüfte. Hoch oben kreisen Milane und Mäusebussharde. Ich höre Amseln jubilieren, Buchfinken und Mönchsgrasmücken in den Hecken zwitschern. Blühende Rosenbüsche säumen zeitweise den Weg, manchmal Wegwarten und Mariendisteln.
In den Wiesen gewahre ich viele Maulwurfshügel, die sich bis an den Rand der Wäldchen erstrecken, ab und zu kann ich sie kaum von Ameisenhügeln unterscheiden, die es hier in Hülle und Fülle gibt. Wir kommen an kleinen Seen vorbei, wo die schwarzgefiederten Blässhühner, kopfüber nach Nahrung suchen, Schwäne über das Wasser gleiten, Enten und Kraniche im Schilf ihre Nester bauen.
Wir reiten im Schritt, denn Moritz’ Brüder wandern mit uns. Ich weiss nicht, ob Moritz sie dazu überredet hat, oder sie selbst auf die Idee gekommen sind.
«Ah, schaut mal, ein Ameisenhaufen!», ruft da einer der Brüder, «Kommt wir wollen sie aufwühlen. Dann werden sie aufgeregt und tragen ihre Eier fort.»
«Das sind keine Eier, sondern Kokons», belehrt sie Moritz, «Aber ich leide es nicht, wenn ihr sie stört», sagt’s und Ruhe wart.
Irgendetwas stimmt mit diesen Brüdern nicht, liebe Kathrin, gestern bewarfen sie Elstern mit Kieselsteinen, heute wollen sie sich an der Angst der Ameisen vergnügen. Mir gefällt das nicht.
«Lasst uns zwei, drei Enten fangen und braten. Es ist ein Leichtes, wenn das Weibchen auf den Eiern sitzt und nicht davonfliegt!», schlägt der zweite der Brüder vor.
«Ich leide es nicht, wenn ihr Tiere tötet!», greift Moritz erneut ein.
«Und ich leide es nicht, wenn du dich ständig einmischst und uns verbietest, etwas zu tun, das uns Spass macht!»
«Nun gut. Dann geht euren Weg, wir gehen den unseren!», kontert Moritz, sagt’s und bringt unsere Pferde in den Trab.
«Nein, warte! Wir tun auch, wie du möchtest. Bitte!»
«Was ist mit denen los? Weshalb wollen sie partout mit uns mitkommen?», flüstere ich Moritz zu, während unsere Pferde wieder im Schritt gehen.
«Sie wollen die Prinzessinnen erlösen!», klärt mich Moritz auf.
«Ihr habt Euren Brüdern die Geschichte erzählt?», ich bin erstaunt.
«Nur keine Angst. Es sind Prahlhänse, alle beide. Die werden die drei Aufgaben nicht lösen können.»
«Aber dann werden sie zu Stein!»
«Was mir nur allzu recht ist. Mit denen ist nicht gut Kirschen essen.»
«Oh, Kirschen! Die Wirtin hat uns Kirschkuchen als Zwischenmahlzeit mitgegeben. Kommt, wir machen eine Pause. Mein Magen knurrt.»
Wir reiten bis zur nächsten Kreuzung, wo ein riesiger Holder steht, die obligaten Bänke darunter. Wir gleiten von unseren Pferden und ich entnehme der Satteltasche den von der Wirtin mitgegebenen Proviant. Nicht nur Kirschkuchen, sondern kleine, knusprigen Brötchen und Würste. Ich teile Brot und Wurst unter uns vieren auf.
«Haben wir keinen Wein?», mault der eine Bruder.
«Nein. Aber du kannst deinen Becher an jedem Bach mit frischem Wasser füllen.», entgegnet Moritz.
Ich lehne zurück, beisse abwechslungsweise in eines der Brötchen und in die pikante, wohlschmeckende Wurst. Ah, die Leute in diesen Landen verstehen es, Würste göttlich zu würzen. Ich schmecke Knoblauch, sehr viel Knoblauch, und Pfeffer, sehr viel Pfeffer, auch Ingwer, Muskat und Koriander, Majoran. Ein Hauch Zitrone. Himmlisch!
«Träumt Ihr?», fragt Moritz, «Wollt Ihr etwa keinen Kirschkuchen?»
Und ob ich das will.
«Schaut nur, da oben im Holunder gibt’s eine Baumhöhle, da fliegen Bienen ein und aus!», ruft der eine der Brüder ganz begeistert, «Lass sie uns ausräuchern, damit wir an den Honig gelangen!»
«Sag mal, spinnst du?», interveniert Moritz, «Habt ihr eigentlich nichts besseres im Sinn als Tiere zu quälen? Nimm gescheiter ein Stück des leckeren Kirschkuchens, dann brechen wir auf, um rechtzeitig zum Abendbrot im Schloss zu sein.»
Und wir reiten dahin. Im Schritt. Endlos. Die Brüder jammern, sie hätten Blasen an den Füssen. Sie seufzen, ihnen täten die Beine weh. Sie klagen, sie müssten dringend rasten. Moritz lässt sie jammern, seufzen, klagen.
«Dort, in der Ferne, auf dem höchsten der sanften Hügel, seht ihr dort die Turmspitze des Schlosses? Jetzt findet ihr allein hin», und mit diesen Worten lässt Moritz unsere Pferde lostraben. Trotz des Gejammers und Gezeters seiner Brüder. Ich bin erleichtert.
Während wir so dahintraben, die Brüder immer weiter hinter uns lassend, blicke ich zu Moritz, der rechts von mir reitet, aufrecht und doch locker auf seinem königlichen Pferd sitzt. So, genau so stelle ich mir den Kerl, Knecht vor, muss ich denken. Der Kerl, der sich unsterblich in die Tochter des Müllers verliebte, auf der Suche nach der Rabin dreimal auf die Alte im düsteren Wald hereinfiel doch nach wie vor die Rabin erlösen will, die an ihn glaubt. Allein schon die Gestalt, gross und schlank und kraftvoll, vereint mit einem edlen Charakter und Frohsinn, und ebendenselben grauen, wollenen Mantel der Weisen Weiblein, so muss der Kerl ausschauen. So stelle ich ihn mir vor. Wie ein jüngerer Bruder oder der Sohn von Mylord. Auch dieser hochgewachsen, edlem Charakter, einem Charisma und grauem, wollenen Mantel.
Mit grauem, wollenem Mantel!
In diesem Augenblick reiten wir durchs Tor in den Hof des Schlosses, wo die Tische gedeckt sind, die Küchenmägde eifrig umherschwirren, Speis und Trank auftischen und der ganze Hofstaat versammelt ist. Und ich verliere den Faden, den ich eben noch sicher in der Hand zu halten glaubte.
Episode 20
Alle schauen uns erwartungsvoll an. Wir sind von unseren Pferden gestiegen, zwei Stallburschen führen diese diensteifrig in die Ställe.
«Du musst bald schon zwei zusätzliche Stühle herbeischaffen lassen, Vater, denn deine verlorenen Söhne, werden in zwei, drei Stunden eintreffen!», weist Moritz seinen Vater an.
Ich sehe Moritz an, dass er noch einen Satz hinzufügen wollte, und ahne, dass er hätte sagen wollen, dass ihn nun nichts mehr aufhalten könne, die Prinzessinnen zu erlösen. Aber der allgemeine Tumult, der ausgebrochen ist, ist zu gross.
Ich höre Tuscheln, Raunen. Sätze wie: “Die vermissten Söhne kehren zurück“. “Demnach können noch Wunder geschehen“, “Bald werden die Prinzessinnen erwachen“, “Bald kehrt Sophia zurück“.
Moritz’ Vater lächelt, strahlt, will Moritz umarmen, greift sich ans Herz und sinkt darnieder, Moritz kann ihm gerade noch unter die Arme greifen, und ihn sanft zu Boden gleiten lassen.
Schon sind Berta und Magdalena bei Moritz Vater.
«Ein Kissen, eine Decke, Riechsalz!», ruft Berta in die Runde.
Schon ruht der Kopf des Ohnmächtigen auf einem Kissen, schon zieht Moritz seinen wollenen Mantel aus und deckt seinen Vater damit zu, schon hält Berta ein kleines Fläschchen Riechsalz, das ihr jemand gereich hat, unter die Nase des Liegenden, da geht durch diesen ein Ruck, er schlägt die Augen auf, stammelt: «Meine Söhne!», und sinkt erneut ermattet nieder.
«Es ist sein Herz!», erklärt Berta, «Nicht nur Kummer und Gram können einem das Herz brechen, auch grosses Glück. Wir wollen ihn in die Küche bringen, damit er der Nähe des Feuers ruhen kann.» Und an Magdalena gewandt: «Schnell, mach einen Tee aus den Blättern und Blüten von Weissdorn, Herzgespann, Melisse und Pfefferminze, Passionsblume und Birke. Süsse ihn mit Honig.»
Magdalena eilt davon, Moritz hebt seinen ohnmächtigen Vater auf und trägt ihn behutsam Richtung Schloss.
«Wir wollen jetzt essen und trinken. Der Vater von Moritz ist in guten Händen», gebietet die Königin, «Und danach», sie lächelt mir aufmunternd zu, «wollen wir gerne hören, was Ihr auf Eurem Ausflug erlebt habt, wie Ihr die Brüder von Moritz gefunden habt.»
Wie benommen ergreife ich die Gabel und möchte ein Stück Rosenkohl aufspiessen, aber es gelingt mir nicht. Ich bin schockiert ob der plötzlichen Ohnmacht des Vaters.
Der heutige Tag war mir zu turbulent, zu chaotisch, liebe Kathrin. Ich bin doch hergekommen, um mich ein wenig von meinem eigenen turbulenten und chaotischen Alltag zu erholen, ja, auch um Märchen zu erzählen. Aber jetzt diese Hektik, dieses Drunter und Drüber! Das befremdliche Verhalten von Moritz, der seine Brüder unverhofft doch nicht finden wollte, und das verstörende Benehmen ebendieser flegelhaften Brüder. Die Ankunft der Riesen und die damit verbundenen Neuigkeiten... Und da war noch etwas, ein Geistesblitz, eine Erkenntnis, doch diese ist mir entfallen.
Der alte Mann, der sonst die Wege wischt und die Rosen pflegt, und bei den Mahlzeiten neben mir sitzt, spricht mich an: «Geht es Euch nicht gut, meine Liebe?», nimmt eine Flasche mit dem alten, ehrwürdigen, himmlisch schmeckenden Armagnac und schenkt mir mit den Worten «Das wird Eure Lebensgeister wecken!», ein Gläschen der bernsteinfarbenen Flüssigkeit ein.
Er hat recht. Es geht mir gleich ein wenig besser. Berta, die Köchin, und ihre Küchenmägde haben das Lieblingsgericht von Benjamin gekocht, Kartoffelstock mit Fleischbällchen, dazu verschiedenfarbiges Gemüse, das ist hier Tradition. Der grüne Rosenkohl ist mit Senfbutter zubereitet, die orangen Karotten sind mit Basilikum gewürzt, die roten Tomaten mit Kräuterkäse überbacken. Ich nehme von allem einen Happen. Mir ist immer noch ein wenig konfus und flau.
«Ihr könnt jetzt beginnen!», fordert mich Mylord auf, und – als hätte er meine Gedanken gelesen, «Ich bin mir sicher, Moritz wird in der Küche Eure Erlebnisse berichten. Niemand hier wird etwas versäumen.»
Ich nehme den Faden wieder auf. Ich erzähle von den Brüdern, aber keine der Schandtaten, nichts vom Schnaps und Bilsenkraut. Ich erzähle von den Riesen und wie der Kerl, Knecht, Namenlose, von dem einen der Riesen beinahe verspeist wurde. Wie die Riesen dann auf einer alten Karte das Schloss Stromberg gefunden hätten, aber dieses tausende von Meilen entfernt sei. Wie dann aber der eine Riese den Kerl, Knecht, Geselle bis einhundert Meilen ans Schloss gebracht hätte.
Es hagelt Fragen. Wie die Riesen aussähen. Warum sie Brüder seien und doch ein Kind hätten und dieses säugen würden. Geduldig beantworte ich alle Fragen, so gut es geht. Just in dem Moment, wo ich erkläre, dass die Riesen vermutlich in einigen Tagen auf ihrer Weltreise hier im Schloss einträfen, just in diesem Moment treffen die beiden Brüder von Moritz ein, treten an unsere Tische und einer der beiden fragt höflich: «Sind wir hier richtig, im Schloss, wo unser Bruder Moritz wohnt?»
«Ja, Moritz, der Stallknecht, wohnt hier!», beantwortet der König würdevoll ihrer Frage.
««Ein Stallknecht! Hast du das gehört, Moritz ist tatsächlich ein Knecht, ein Stallknecht!», witzelt der eine der Brüder.
«Er mistet den Stall und trocknet und bürstet die verschwitzten Pferde», lacht da der zweite der Brüder, «Er ist tief gefallen, unser Jüngelchen.»
«Was gibt es da zu lachen?», das ist der erboste Vinzenz, «was ist den Euer Beruf?»
«Beruf, er hat Beruf gesagt!», witzelt der erste, «Wir sind Prinzen von Geburt an, wie Ihr, will mir scheinen.»
«Ja, wir sind Prinzen von Geburt an, und auf einer Vergnügungsreise, weshalb wir vielleicht nicht mehr so prinzenmässig gekleidet sind. Aber unser Vater, ein König, soll hier weilen, hat uns Moritz erklärt», höhnt der zweite.
«Euer Vater ist mein Kammerdiener und Vertrauter», weist der König die beiden zurecht.
«Unser Vater ist ein König!», jetzt wird der erste der Brüder zornig, «Und hat Euch nicht zu dienen!»
«Wir hier im Schloss legen Wert auf gute Manieren. Mir scheint, Ihr habt hier nichts zu verlieren. Geht uns aus den Augen. Sofort!», gebietet der König entschieden.
«Wir sind hier, um die Prinzessinnen zu erlösen!», brüstet sich jetzt der ältere der Brüder, «Wie uns gesagt wurde, sind bisher alle beim Versuch, die Aufgaben zu lösen, gescheitert und jetzt traut sich keiner mehr. Keiner ist mutig genug, es sind alles Weichlinge und Schwächlinge. Jammerlappen. Mein Bruder und ich haben aber bereits unter uns ausgelost. Das Los ist auf mich gefallen. Ich werde morgen in der Früh die Aufgaben lösen und die Prinzessinnen erwecken. Nun aber fordern wir Speis und Trank und eine Bleibe für die Nacht.»
Es ist still. Mucksmäuschenstill. Alle schauen zum König hin. Was wird er antworten? Er, der gerade eben die beiden Brüder energisch weggeschickt hat?
Da erhebt er sich. Majestätisch steht er da.
«Ihr habt vergessen, darum zu bitten!», sagt er würdevoll. Bleibt stehen, wartend, in sich ruhend.
Lange geschieht nichts. Der König schweigt, die Brüder schweigen. Der ganze Hofstaat schweigt.
«Bitte. Wir bitten um Speis und Trank und ein Obdach für die Nacht und wir bitten darum, die Prinzessinnen erlösen zu dürfen», das war der jüngere der beiden Brüder.
«Ich mag und dulde Eure Manieren nicht. Weil Ihr aber die Söhne meines Freundes seid und es um das Leben und Wohl unserer Töchter geht, die wir über alles lieben, mache ich eine Ausnahme. Ihr dürft bleiben, doch nur, wenn Ihr Euch von nun an benehmt», gebietet der König hoheitsvoll.
Episode 21
Es ist beklemmend. Der ältere der Brüder hat sich auf die Suche gemacht. War sein Auftreten gestern noch aufschneiderisch und hochmütig, so wirkte er heute Morgen kleinlaut und furchtsam. Er ist zum Frühstück erschienen, brachte aber kaum einen Bissen herunter. Hat ein Glas Wasser getrunken und sich dann aufgemacht, zum Wäldchen, das zum Schlosspark gehört.
Wir bangen um ihn. Er ist ein Flegel, gewiss, doch niemand wünscht ihm etwas Schlimmes. Niemand möchte, dass er am Abend zu Stein wird. Zu schrecklich ist diese Vorstellung.
Wir schweigen oder unterhalten uns flüsternd.
«Wie geht es Eurem Vater?», frage ich Moritz leise.
«Gut. Er ist schwach, aber es geht im besser. Er hütet das Bett.»
«Das muss schwer für ihn sein, seine beiden Söhne sind zurück, aber jetzt schwebt bereits der eine in Lebensgefahr.»
«Und bald der zweite, dritte!»
«Hört auf. Mir wird noch angst und bange.»
«Könnt Ihr nicht ein wenig zaubern?», fragt mich Moritz leise.
«Ihr meint, eine Geschichte erzählen?»
«Nein, ich dachte eher an Eure hellseherischen Fähigkeiten.»
«Wie Euer Bruder die Perlen sucht?»
«Ja, wo er ist, wo er sucht...»
Ich schliesse die Augen, konzentriere mich. Sehe den armen Kerl auf dem Boden herumkriechen, in unmittelbarer Nähe eines der steinernen Menschen. Eines kleineren Steinmenschen. Das muss der Küchenjunge sein.
«Hat Euer Bruder einen Namen?»
«Ja, Max, weshalb?»
«In unseren Geschichten gibt es zu viele Brüder oder Kerle, Knechte, Namenlose. Und Ihr, habt Ihr auch einen Namen?», spreche ich den Zweiten der Brüder an.»
«Phil ist mein Name.»
Es muss sich in Windeseile herumgesprochen habe, dass ich etwas erzählen werde, denn von allen Seiten kommen sie herbei. Knechte, Mägde, Kammerdiener und Kammerzofen, der ganze Hofstaat eben. Der alte Mann sitzt wie gewohnt neben mir, Mylord mir gegenüber. Im Apfelbaum über unseren Köpfen jubiliert eine Amsel, ich höre Schwalben und Spatzen zwitschern, weit über uns kreisen Kolkraben und Milane. Es hätte ein wunderbarer Frühlingsmorgen sein können.
Gerade will ich zu erzählen beginnen, da kommt Max zurück. Nein, er geht nicht aufrecht, er schleppt sich zu uns her. Er ist totenbleich.
Sofort wird er mit Fragen bestürmt, doch er scheint zu schockiert, zu ermattet, als das er antworten könnte.
“Was ist los?“, “Hast du bereits aufgegeben?“, “Hast die tausend Perlen gefunden?“, “Bist du einem Monster oder Ungeheuer begegnet?“
«Haltet ein! Ich will Euch erzählen, was sich zugetragen hat!», greife ich ein, derweil die gute Berta ihren kräftigen Kräuterschnaps herbeibringt und Max ein Gläschen einschenkt.
Ich nehme den Faden auf, den eigentlich Max gesponnen, und ich nur noch abspulen muss.
«Nun denn, Max hat sich vorsichtig dem Wäldchen genähert, hat sich gefragt, wo er denn mit Suchen beginnen müsse, da hat er plötzlich einen kräftigen Steinmenschen erblickt, es war der Schmied, das hat ihm einen gehörigen Schrecken eingejagt.
“Den hat es beim Sonnenuntergang erwischt“, hat sich Max gedacht, sich gebückt und tatsächlich die erste Perle entdeckt, die er sorgsam in seine Jackentasche steckte. Er liess sich auf den Boden nieder und bewegte sich nun auf allen Vieren kriechen fort, tastete mit den Fingern den Boden ab, fand da und dort noch einige weitere Perlen, hat sich beherrscht, hat sich im Zaum gehalten, denn ihm ist mehr und mehr klar geworden, dass das Unterfangen unmöglich ist, hat trotz aller Zweifel tapfer weitergesucht, den Boden eifrig abgetastet, er hatte gerade eine weitere Perle aufgespürt, als er sich den Kopf am steinernen Küchenjungen anstiess. Vor Schreck sind ihm die siebe Perlen, die er noch in der Hand hielt, auf den Boden gefallen. Schon wollte er sie wieder auflesen, da kam unverhofft ein kleiner Vogel angehüpft, der wohl einen Käfer oder Wurm im Moos und Laub des Waldbodens gesucht hat, vielleicht auch Nistmaterial, wer kann das wissen. Der Vogel hat husch eine der Perlen entdeckt, diese vielleicht für ein Insekt gehalten, hat sie hastig mit dem Schnabel aufgepickt und husch, war der Vogel schon auf und davon.»
«Nein!», schreit die Königin ausser sich, «Nein! Meine Töchter sind verloren. Nun wird niemand die tausend Perlen finden, niemand wird meine Töchter je erlösen können!»
Allen steht der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Mit dieser Wende hat niemand gerechnet.
Mylord findet als erster die Fassung wieder. «Vielleicht ist es ja so», wendet er sich an uns alle, «vielleicht ist es nur wichtig, dass die Perlen gefunden werden. Wo immer sie danach hingelangen, zählt nicht.»
Schweigen. Ratlosigkeit. Verwirrung.
«Wir sollten die drei Weisen Frauen um Rat fragen!», schlägt Vinzenz vor.
«Haltet ein!», rufe ich jetzt in die Runde, «Ich habe noch nicht alles erzählt, was vorgefallen war.»
Ich sehe zu Max hinüber, der nach wie vor totenblass und in sich gesunken dasitzt, aber mir zunickt.
«Ihr wisst doch alle, dass man manchmal, wenn alles schiefgeht, wenn man alle Hoffnung verliert, wütend wird?», beginne ich behutsam, denn was nun folgt wird schwierig zu verstehen sein. «Max hat die Perlen, die ihm aus der Hand gefallen waren, als er sich den Kopf angestossen hatte, mit zitternden Fingern wieder aufgelesen, hat sie sorgsam in seine Tasche gesteckt, ist aufgestanden und wollte zurückkommen, zu uns in den Hof, um sich mit uns zu beratschlagen. Da kam er an dem Teich vorbei, der im Schlosspark liegt. Er war unsäglich erschüttert und verzweifelt über das Vorgefallene. Da hat ihn auf einmal eine unsägliche Wut ergriffen, er hat all die bereits gesammelten Perlen aus seiner Jackentasche geholt, sechzehn an der Zahl, hat sie betrachtet, und sie mit heftigem Schwung mitten in den Teich geworfen.»
Stille. Ratlosigkeit. Die Bestürzung steht uns allen ins Gesicht geschrieben.
«Ich habe alles verdorben», stottert Max zerknirscht, «Ich würde mein Leben hergeben, wenn ich es wieder gut machen könnte!»
«Komm, wir gehen zurück und versuchen die Perlen zu finden!», ergreift plötzlich Phil das Wort, «Ich weiss zwar nicht wie, aber es können Wunder geschehen.» Und mit diesen Worten steht er auf, nimmt den verdutzten Bruder beim Arm und so ziehen sie von dannen.
Kaum sind die beiden Brüder im Schlosspark aus unseren Augen verschwunden, da kommt ein kleiner Vogel geflogen, setzt sich auf den Tisch, öffnet seinen Schnabel und eine Perle kugelt heraus. Der kleine Vogel schnappt sich geschwind eine Brotkrume und bevor wir richtig verstehen, was gerade geschehen ist, hüpft er schon davon, öffnet seine Flügel und entschwindet in die Lüfte.
Die Königin beginnt zu herzergreifend schluchzen. «Ein Wunder! Ein Wunder ist geschehen!»
Episode 22
Es ist erneut früher Morgen. Ich stehe draussen vor dem Tor des Schlosses und betrachte das friedliche Land, das in der milden Morgensonne noch zauberhafter und hinreissender wirkt als je zuvor. Ich blicke auf die voll erblühten Wiesen, die mich in ihrer Mannigfaltigkeit an Strukturen und Farben an Bilder von Monet erinnern.
Ich zittere und bebe innerlich. Denn Moritz ist losgezogen. Heute ist sein Tag, er sucht die restlichen Perlen, er versucht die Prinzessinnen zu erlösen. Seine Brüder sind Steine. Steinskulpturen.
Es hat noch ein weiteres Wunder gegeben, gestern. Ein ungeheuerliches, grossartiges, irgendwie, trotz all des Kummers, den wir nun empfinden.
Die beiden Brüder waren auf dem Weg zum Wald, wo sie die Perlen gemeinsam suchen wollten, beim Teich vorüber gekommen und hörten plötzlich ein Geräusch. Ein Plätschern. Sie blieben stehen, schauten ins Wasser, das sich nun kräuselte. Da kam ein Fisch an die Oberfläche geschwommen, bis ganz nahe ans Ufer, hat seinen Mund aufgemacht und die Perlen, ja, genau jene Perlen, die Max in seiner Verzweiflung in den Teich geworfen hatte, ausgespuckt.
Das war für die beiden Brüder eine grosse Erleichterung und Ermutigung. Mit Eifer haben sie den Boden des Wäldchens abgesucht, Zentimeter für Zentimeter, fünfhundertzweiunddreissig Perlen hätten sie finden müssen. Kurz vor Sonnenuntergang hatten sie erst einhundertsechsundfünfzig Perlen gefunden, jene die der kleine Vogel auf dem Tisch gelegt hatte, nicht mitberechnet. Sie schauten sich, an, die beiden Brüder, haben sich die Hände gereicht, mit Tränen in den Augen, als just in diesem Moment die Sonne hinter dem Horizont unterging.
So haben wir sie gefunden. Max an eine alte Eiche gelehnt, den einen Arm ausgestreckt, Phil noch halbwegs in Kauerstellung, eine Hand am Boden abgestützt, die andere gen Max ausgestreckt, dessen Hand er berührt, als wolle er sich von Max hochziehen lassen, auch sein Blick ist auf Max gerichtet, beide mit steinernen Tränen im Gesicht.
Moritz schämte sich nicht, seinen Kummer zu offen zu zeigen: «Ich habe sie falsch eingeschätzt. Ich habe ihnen unrecht getan», schluchzte er.
«Nein, das habt Ihr nicht! Eure Brüder waren echte Rüpel, doch manchmal bringt Leiden das Beste in einem Menschen hervor», wendete Mylord ein, nahm ihn beim Arm und so kehrten beide in den Hof zurück.
In diesem Moment hätte ich Moritz schütteln mögen, so aufgebracht war ich. Ich hätte ihn anschreien und ihm sagen wollen, er selbst hätte ja die Brüder über die Prinzessinnen und deren Verzauberung aufgeklärt und diesen so erst das Begehren, dass sie die Prinzessinnen erlösen wollten, ins Herz gepflanzt. Und er selbst, Moritz, hätte sich einst – vor sechs Tagen erst – als erster anerboten, die Aufgaben zur Erweckung der Prinzessinnen zu lösen. Ach, es ist eine verworrene Sache, denn ohne jene, welche das Wagnis wagen, würden die Prinzessinnen wohl ewig schlafen!
Es war ein stilles Abendbrot gestern. Ich musste die Küchenmägde und Berta bewundern, welche trotz ihrer Anteilnahme, ihres Kummers und Grams, es fertigbrachten, nicht nur ein schmackhaftes Abendessen zuzubereiten, sondern auch die Lieblingsdesserts des Hofstaats aufzutischen. Eine mit Erdbeeren und Sahne gefüllte Pavlova, eine Schüssel Schokoladenschaum, eine Platte mit Ofenküchlein, die mit Orangensahne gefüllt waren und Körbchen voller Zimtsternen, Vanille-Plätzchen und Zitronenschnitten. Selbst der obligate Milchreis für die Benjamin und die Kinder des Hofstaats fehlte nicht. Ja, die Küchenmägde hatten ihr Bestes gegeben, um uns auf andere Gedanken zu bringen.
«Erzählt etwas!», drängte mich Moritz, «Ich möchte nicht an meine Brüder und an morgen denken. Lenkt uns ums Himmel Willen etwas ab!»
«Ja, erzählt von dem Kerl, der von dem einen Riesen in die Nähe des Schlosses Stromberg gebracht hatten», begeisterte sich Benjamin.
Ich war unschlüssig, aber bezwang meine innere Unruhe und Besorgnis.
«Nun denn. Der Kerl, dessen Namen wir nicht kennen, war von dem einen Riesen hundert Meilen vom Schloss entfernt niedergesetzt worden, wie wir wissen. Es war ein wilder Wald, ohne Weg noch Steg, noch Häuser, noch Dörfer, noch Menschen. Der Kerl wanderte Tag und Nacht Richtung Norden, so hatte ihm der Riese geraten, orientierte sich am Stand der Sonne. Es war ein mühsames Unterfangen, denn manchmal versperrtem ihm Dornen und Gestrüpp das Weitergehen, manchmal gelangte er an einen matschigen Sumpf, den er nicht zu durchwaten vermochte, manchmal konnte er einen wilden Bachlauf nicht durchqueren. Es war wahrlich ein hindernisvolles Vorankommen. Wenn er nicht sein nicht alle werdender Proviant bei sich gehabt hätte, er wäre wohl Hungers gestorben. Wenn nicht sein wollener Mantel ihn vor Nässe und Kälte geschützt hätte, er wäre wohl erfroren. Er schlief auf den Bäumen, da er nicht wusste, welche wilden Tieren im Wald nächtens umherzogen.
Es müssen Wochen vergangen sein, und er war bereits sehr ermattet, als er endlich am Horizont etwas golden Glänzendes erspähte. “Das muss das goldene Schloss sein!“, dachte er. Er strengte sich doppelt und dreifach an. Doch je näher er dem Schloss kam, desto grösser wurden die Hindernisse. Einmal kam er an einen breiten, reissenden Fluss. Er wandte sich nach Westen, suchte eine Furt. Tagelang entfernte er sich von dem heisserwarteten Ziel, bis er umkehrte und wieder nach Osten wanderte. Endlich gewahrte er einen Übergang: grosse Felsbrocken lagen in der Strömung. Mit halsbrecherischen Sprüngen gelangte er auf die andere Seite des Flusses. Ein andermal tat sich ein Spalt in der Erde auf und er kam nicht mehr weiter. Er suchte sich Holz, das durch Wind und Sturm gefallen war, und zimmerte sich eine Brücke.
Manchmal verliess ihn den Mut. Vor allem abends und wenn es regnete, und er die goldenen Zinnen des Schlosses nicht mehr sehen konnte.
Eines Abends erreichte er das Schloss. Es lag auf einem Berg, der ganz aus Glas war. Er versuchte, den Berg zu erklimmen, doch es war umsonst, er rutschte immer wieder herunter. Dieser Berg liess sich nicht bezwingen. Er setzte sich nieder und betrachtete das verwunschene Schloss. Da erschien die Jungfrau unverhofft in ihrem Wagen. Sie fuhr einmal ums Schloss und ging dann wieder hinein.
Er war ganz betrübt, dass er sie nicht erreichen konnte und sprach zu sich selbst: “Ich will hier unten bleiben und auf sie warten.“ Also baute er sich eine Hütte und sass darin ein ganzes Jahr und sah die Königstochter alle Tage oben fahren, konnte aber nicht zu ihr hinaufkommen.»
Ich schaute auf und sah Mylord an. Sein Wesen verströmte immer noch dieses tiefe Verstehen, diese Güte. Sein Charisma inspirierte mich, sodass ich fortfuhr: «Dieses Jahr des Wartens und der Einsamkeit, aber auch schon die ganze sagenhafte Wanderung bis zum Glasberg, auf welchem das goldene Schloss steht, das machte aus dem Kerl, Knecht, dem ohne Namen, einen anderen Menschen. Er wurde geduldig, genügsam und bescheiden. Er ward froh, die Königstochter täglich zu sehen. Er ward froh, in der Nacht die Laute des Kauzes zu hören, das Geraschel all jener Tiere, die nächtens durch den Wald streifen. Er ward froh, wenn die Sonne am Morgen aufging und am Abend unterging. Er ward froh, über den Tau, den Regen, den Schnee. Manchmal dachte er zurück an die schöne Tochter des Müllers und wünschte ihr, sie möge glücklich sein. Seine Liebe zu ihr war nicht erkaltet, er bewahrte sie in seinem Herzen.»
Episode 23
Ich stehe noch immer draussen vor dem Tor und blicke über die lieblichen Hügel bis zum Horizont, wo der Mond, rund und voll, am blassen Himmel steht.
Wie es wohl Moritz gehen mag, der sich früh beim Morgengrauen aufgemacht hat, zum Wald gegangen ist, um die restlichen Perlen zu finden? Dreihundertfünfundsiebzig Perlen, um genau zu sein. Ich kann mir vorstellen, wie er auf dem Boden herumkriecht, jedes Blatt, jedes Stückchen Moos, jeden Stein wendet. Doch das Schlosswäldchen ist gross. Es ist unmöglich, diese ganze Fläche in einem Tag abzusuchen.
Ich könnte schreien. Es völlig ausgeschlossen, je alle Perlen zu finden.
Magdalena erscheint unter dem Tor, kommt auf mich zu: «Ich habe Euch überall gesucht, weil Ihr zum Frühstück nicht erschienen seid. Ich habe Euch ein Brötchen mitgebracht», sie zögert, «Seht Ihr etwas?»
«Ich möchte gar nicht sehen. Nicht sehen, wie Moritz scheitert», erwidere ich leise.
«Ah, hier seid Ihr!», das ist Lucas, einer der Prinzen, «Ich habe Euch gesucht. Seht Ihr etwas?»
«Ich weiss nicht, ob ich es sehen will», entgegne ich matt.
Da erscheinen die drei Kammerzofen der Königin unter dem Tor. Auch sie schauen sich suchend um.
«Hier ist sie!», ruft Dagmara laut.
Jetzt erscheinen sie alle. Vinzenz und Benjamin, Berta und Magdalena und ihre Küchenmägde. Der Stallmeister und die Stallknechte. Dienerinnen und Diener. Der Schatzmeister. Die Jäger und Knechte – der ganze Hofstaat eben. Der alte Mann und Mylord zuletzt. Doch wo sind die Königin und der König?
«Die Königin ist erschöpft und hat sich zurückgezogen», erneut scheint Mylord meine Gedanken lesen zu können.
Ich setze mich an den Wegrand, Agnes, Damara und Irene, die drei Kammerjungfern, setzten sich ebenfalls hin, die anderen tun es ihnen gleich.
«Was seht Ihr, meine Liebe?», fordert mich Mylord an. Er lächelt mir zu. Erstaunlich, dass einem jemand mit einem Lächeln Freude und Mut machen kann. Ich lächle zurück.
«Moritz ... sucht nicht mehr.»
Ein Raunen, Tuscheln, Wispern.
«Er sitzt auf einem Stein, die Hände vor dem Gesicht und murmelt: “Ich wusste ja, dass es aussichtslos ist. Diese riesige Fläche könnten nicht einmal einhundert Menschen zusammen absuchen, damit ja keine der Perlen fehlt. Ich such nun bereits seit zwei Stunden und habe erst sieben Perlen gefunden. Oh, mein Gott. Die armen Prinzessinnen. Was für ein Fluch!»
Seufzen, Raunen, leises Weinen.
«Moritz sitzt noch immer auf dem Stein, untätig, mutlos, die Hände vor dem Gesicht. Tränen rinnen zwischen seinen Fingern hindurch, und er sieht deshalb nicht, was um ihn herum geschieht. Der König jener Ameisen, deren Hügel Max und Phil vor zwei Tagen zerstören wollten, ist gekommen und mit ihm fünftausend Ameisen. Diese krabbeln herum, suchen die Perlen und tragen sie auf einen Haufen zusammen. Ja! Es ist so weit, die kleinen Tierchen haben alle restlichen Perlen zusammengetragen. Dreihundertfünfundsiebzig Perlen. Die erste der Aufgaben ist gelöst!»
Seufzen, Jubeln, Raunen.
«Erst jetzt merkt Moritz, was geschehen ist. Er steht auf, taumelnd vor Freude und ... er schreitet Richtung des kleinen Sees, wo einst – vor einer Woche erst – das Weise Weiblein mit dem grossen Daumen den Zimmerschlüssel für die Kammer der Prinzessinnen hineingeworfen hat. Dort schwadern einige Enten herum, es sind jene Enten, die Max und Phil vorgestern fangen und töten wollten. Die Enten tauchen ins Wasser, wieder und wieder. Endlich taucht eine auf und hat unzweifelhaft den Schlüssel im Schnabel! Sie schwimmt ans Ufer, wackelt zu Moritz und legt den Schlüssel darnieder.»
Jauchzen, Jubeln, Weinen.
«Moritz wirkt völlig überrascht, er ergreift den Schlüssel. Die Enten breiten bereits ihre Flügel aus und kräftig flügelschlagend gleiten sie über das Wasser und fliegen davon. Moritz schaut ihnen nach. Ungläubig schüttelt er den Kopf und betrachtet den Schlüssel, den er in seinen Händen hält. “Ich muss los, ins Schloss, die Türe aufschliessen, wo die Prinzessinnen bereits so lange schlafen. Muss herausfinden, welche der Prinzessinnen Honig auf ihren Lippen hat“, denkt er und eilt davon, Richtung Schloss.»
Seufzen, Lachen, Weinen.
«Moritz läuft zum Schloss, geht durch die Schlosstüre, die Treppe hinauf und schon steht er vor der Kammertüre, die verschlossen ist, nimmt den Schlüssel und schliesst die Türe auf. Mit zwei drei Schritten ist er bei den Betten der Prinzessinnen und betrachtet sie. Sie schlafen friedlich, ein wenig lächelnd, alle drei. Moritz beugt sich über jede, versucht den Duft von Honig auf den Lippen der drei Prinzessinnen ausfindig zu machen. Doch er riecht nur den süssen Wohlgeruch der Schlafenden.
Da kommt eine Biene durch das offene Fenster geflogen. Es ist die Bienenkönigin des Bienenvolkes, das Moritz’ Brüder vor zwei Tagen ausräuchern wollte, und deren Ansinnen er vereitelt hatte. Die Bienenkönigin fliegt zu jeder der Prinzessinnen und bleibt zuletzt auf den Lippen der einen sitzen. “Das muss die Prinzessin sein, welche Honig auf den Lippen hat“, ruft Moritz freudig aus. In diesem Moment schlägt diese die Augen auf, gähnt und fragt: “Weshalb seid Ihr in unserer Kammer, Moritz?“. Ihre beiden Schwestern schlagen ebenfalls ihre Augen auf, auch sie wundern sich sehr, weshalb sie mitten am helllichten Tag in ihren Betten liegen und Moritz bei ihnen im Zimmer freudig herumtanzt und schreit: “Die Prinzessinnen sind erweckt! Holt die Königin und den König! Bereitet ein Fest!“, ohne zu beachten, dass die Bediensteten sich nicht im Schloss aufhalten, sondern hier draussen am Wegrand und in der Wiese sitzen und der Märchenerzählerin zuhören.»
Die letzten Sätze habe ich vor mich hingesprochen. Vermutlich hat sie keiner mehr gehört, denn sie sind alle aufgesprungen, jauchzen, jubeln, frohlocken, fallen sich in die Arme, eilen davon, die Prinzessinnen zu begrüssen, ihnen zu dienen, der Königin und dem König die frohe Botschaft zu überbringen. Nur Mylord sitzt noch mir gegenüber und lächelt mir zu.
«Wollen wir?», mit diesen Worten steht er auf, reicht mir die Hand und hilft mir mich zu erheben, und wir gehen gemeinsam durch das Tor in den Hof des Schlosses.
Das Gesinde, der ganze Hofstaat hat sich hier versammelt. Ich sehe wie Franz, der Jäger, Louis, der Küchenjunge, Theo, der Bruder des Fischers, Sigmund, der Schmied sowie Max und Phil vom Schlosswald herankommen. Auch sie wurden erlöst, sind keine Steinskulpturen mehr. Moritz und sein Vater finden sich ein, letzterer noch schwach, aber freudestrahlend. Zuletzt erscheinen die Prinzessinnen zusammen mit ihren überglücklichen Eltern.
Der König schreitet majestätisch zu Moritz und verbeugt sich vor ihm: «Ich weiss nicht, wie ich Euch danken kann. Ihr habt mich überglücklich gemacht. Ihr habt mir meine Töchter zurückgebracht, habt sie erlöst!», nach einem werweissenden Zögern, «Ich hab’s! Zum Dank schenke ich Euch meine jüngste Tochter zur Frau! Und Eure Brüder dürfen meine beiden anderen Töchter zur Frau nehmen.»
«Nein!», schreit da die Königin auf, «Nein!»
Stille, Entsetzen, Raunen.
«Ihr dürft das nicht! Ihr macht einen Fehler!», sagt mit zitternder Stimme die Königin, «Ihr habt kein Recht dazu!»
Schon sehe ich, wie der König den Atem anhält, wie seine Augen gefährlich zu glitzern beginnen. Gleich wird er wütend sein. Gleich wird er brüllen: “Du wagst es?“
Da kommt ihm die Königin zuvor. Mit entschiedener Entschlossenheit ergreift sie das Wort: «Meine Töchter sollen selbst entscheiden dürfen, wen sie heiraten wollen. Sie sollen der Liebe wegen heiraten. Es soll ihnen nicht so ergehen, wie einst mir!»
Sie blickt Mylord an. Eindringlich. Fragend. Mylord lächelt ihr zu. Gütig, milde.
Das sehe nur ich. Denn längst ist ein Tumult ausgebrochen.
Episode 24
Ich bin in die Küche geflüchtet, wo ich Moritz antreffe. Ein nachdenklicher, in Gedanken vertiefter Moritz.
«Ah, Ihr seid es! Kommt, setzt Euch zu mir hin.»
«Was grübelt Ihr?»
«Ich denke über die Liebe nach. Und übers Heiraten.»
«Und über das Angebot des Königs und die Reaktion der Königin?», rate ich.
«Genau. Was hat die Königin gemeint, als sie gesagt hat, es solle ihren Töchtern nicht gleich ergehen wie ihr selbst? Liebt sie denn den König gar nicht?»
«Vielleicht wurde ihre Ehe arrangiert?», überlege ich laut.
«Das werden die Ehen der Könige hier oft», entgegnet Moritz.
«Denkt Ihr denn nicht übers Heiraten nach?», hake ich nach.
«Nein, nicht so richtig. Gut, ich schäkere gerne mit Magdalena. Sie ist witzig und geschickt und hübsch...»
«Ihr liebt sie?»
«Ich sehe ihr gerne zu, wie sie hier kocht, das Gemüse rüstet, einen Teig zubereitet!»
«Ah, Ihr braucht eine gute Köchin, ist es das?», necke ich ihn.
«Ich fühle mich wohl in ihrer Nähe.»
«Liebt Ihr sie?», hake ich nochmals nach.
«Ich... ich weiss es nicht.»
Unverhofft erscheint die erwähnte in der Küche. Ein Lächeln zaubert sich auf ihr Gesicht, als sie uns erblickt. Uns oder Moritz?
«Hier wird bald ein grosser Trubel sein», erklärt Magdalena, «Die Königin hat uns geheissen, ein Festmahl zu zubereiten. Ach, als würde das so ruckzuck geschehen. Zum Glück sind wir immer voraussichtig und bereiten Vieles schon vor. Vor allem Berta ist vorausahnend. Wir wären sogar gerüstet für ein ausgiebiges Bankett!»
«Berta hat damit gerechnet, dass Moritz alle Perlen findet?», ich bin erstaunt.
«Ja, Berta hat immer an Moritz geglaubt!», erklärt Magdalena strahlend, «Wie ich auch, übrigens!», sagt sie noch strahlender und lächelt Moritz zu.
«Können wir hier sitzen bleiben und Euch zusehen?», frage ich.
«Oh, nein, das geht leider nicht, was ich bedaure. Wie gesagt, bald herrscht hier grosse Betriebsamkeit. Alle Küchenmägde werden hier tätig sein, rüsten, schneiden, schälen, kochen, backen. Wir werden den Tisch hier brauchen, um die Schüsseln und Platten herzurichten.»
Wie wir zum Hof schlendern, fragt mich Moritz: «Seht Ihr irgendetwas?»
«Wie meint Ihr das?»
«Na seht Ihr die Königin? Nein, schaut euch nicht um, so meinte ich es nicht. Seht Ihr die Königin hellseherisch?»
Ich will mich schon verweigern, da sehe ich sie. Nicht direkt. Mir wird schwindlig, weil sich diese Bilder vor mich drängen, als würde ich zwei Welten übereinander betrachten. Sitzend geht das viel besser.
«Der König blickt seiner Gattin in die Augen. “Liebst du mich?“, fragt er sie», ich verstumme.
«Ja, und weiter? Was gibt sie zur Antwort?»
«Sie sagt, sie wüsste es nicht. Sie hätte einmal geglaubt, sie würde ihn lieben, aber jetzt gerade, in diesem ganzen Trubel, in der ganzen Aufregung, mit der Angst um ihre Töchter und deren unverhofften Erlösung, da fühle und spüre sie nichts mehr. Ausser der Erleichterung, dass die Prinzessinnen erlöst seien.»
«Was ist los, weshalb schweigt Ihr?»
«Ich ahne, was der Königin fehlt. Es ist nicht ihre Liebe zu ihrem Gatten, die ihr fehlt. Sie ist in ihren Grundfesten erschüttert. Sie sehnt sich nach Sicherheit und Unterstützung.»
«Das verstehe ich jetzt nicht. Der König stand ihr doch in allem bei, jeden Tag, jede Stunde!»
«Vielleicht ist es etwas Altes, etwas Vergangenes», werweisse ich, «das aufgelöst werden muss.»
«Und? Was seht Ihr noch?»
«Ja, jetzt fragt sie ihn, ob er sie denn liebe.»
«Und?»
«Ich denke, das sollten wir nicht tun!», erwidere ich.
«Weshalb nicht?»
«Das ist zu intim!»
«Ihr müsst mir ja nicht jedes gesprochene Wort mitteilen, eine Zusammenfassung genügt vollends.»
«Sie fragt, ob er sie denn je geliebt habe.»
«Und?»
«Mein Gott, wollt Ihr das wirklich wissen?»
«Wie Euch bekannt sein sollte, bin ich ziemlich hartnäckig und neugierig!»
«Er sagt, er hätte sie vom ersten Augenblick an geliebt. Er hätte sie gesehen und sei ihr verfallen.»
«Und?»
«Das hätte sie leider nicht bemerkt, erklärt sie ihm, er sei ihr vielmehr hart und kalt vorgekommen. Er hätte sie überrumpelt, hätte ihr einen Ring an den Finger gesteckt, ohne sie ausdrücklich zu fragen, ob sie ihn auch wirklich heiraten wolle. Sie hätte oft gedacht, er hätte sie wegen des Reichtums geheiratet, welches sie in die Ehe einbrachte. Ob sie sich denn nicht erinnern könne, wie sehr er gelitten hätte, als Sophia verschwunden sei, entgegnet er. Das stimme, erwidert sie, aber damals sei es ihr selbst sehr schlecht gegangen, sie hätte sich die Schuld gegeben, dass Sophia verschwunden sei. Sie hätte gehadert und mit sich gerungen. Das wiederum habe er nicht bemerkt...», ich halte inne.
«Was ist mit Euch?»
«Die Ehe des Königs und der Königin geht uns nichts an. Was wir da tun, ist voyeuristisch.»
Wir schlendern weiter, da hören wir plötzlich einen ungewohnten Radau.
«Hört Ihr den Lärm? Da muss jemand gekommen sein. Vielleicht ein Gast? Kommt, lasst uns in den Hof gehen!»
Wir kommen gerade zurecht. Die drei Riesen sind angekommen und werden von allen bestaunt. Der König bittet sie zu Tisch, aber die Riesen wollen zuerst eine Führung durchs Schlossgelände und alles besichtigen.
«Ich führe Euch gerne!», bietet sich Moritz an.
«Ah, das ist ja das Bübchen, der Moritz, der uns nach Stromberg gefragt hat!», lacht der eine der Riesen, «Na, dann lasst uns aufbrechen!», er hält plötzlich inne, schaut verdattert in die Menge, sein Mund ist ein Augenblick lang staunend geöffnet, dann beginnt er schallend zu lachen.
«Haha! Bruder! Erkennst du den Kerl, der dort an der Säule lehnt? Mit dem wollenen Mantel? Er ist es! Es ist der Kerl, der ich beinahe vertilgt hätte und den du zum Schloss Stromberg getragen hast!»
Ich schwöre dir, liebe Kathrin, ich hatte es anders geplant. Die Riesen hätten erst morgen eintreffen und Mylord entlarven sollen. Das geschieht dauernd in diesem Märchen. Wenn ich mir zuvor etwas hübsch zurechtlege, wie die Geschichte weitergehen könnte, es kommt anders. Immer.
Jedenfalls blicken jetzt einfach alle, die hier im Hof versammelt sind, der ganze Hofstaat eben, auch die Königin und der König, die nur ein wenig abseits standen, zu Mylord.
«Ihr seid der Kerl, der Knecht, Geselle, Namenlose?», fasst sich Moritz als erster.
Mylord stösst sich elegant von der Säule weg, steht aufrecht da, verbeugt sich leicht, gegen alle Seiten, himmlisch, welche Ausstrahlung, welche Wirkung er auf Menschen hat. Ruhig erklärt er: «Der bin ich!»
Ein nie geahnter Tumult geht los. Mylord wird mit Fragen überhäuft.
“Ihr habt Sophia gesehen, unsere Sophia?“, “Konntet Ihr den Glasberg bezwingen?“, “Lebt Sophia?“, “Ist Sophia erlöst?“, «Weshalb seid Ihr allein hier, und habt Sophia nicht mitgebracht?“
Alles berechtigte Fragen. Nur der “Kleine“ der Riesen scheint enttäuscht, ist er doch um den Rundgang durchs Schloss und den Park des Schlosses betrogen worden. Aber das werden die Riesen wohl morgen nachholen.
Da gebietet der König majestätisch: «Wir wollen uns setzen und die Erlösung unserer drei Töchtern feiern!», und zu den Riesen gewandt, «Berta, unsere Köchin, Magdalena, die erste der Küchenmägde und die Küchenmägde haben ein köstliches Mahl, ein “Dinner“ zubereitet. Ein Festschmaus. Ihr seid dazu eingeladen», und zu Mylord gewandt, «Und Ihr könnt in aller Ruhe während des Dinners oder danach, ganz wie es Euch beliebt, alles erzählen.»
Es ist immer verblüffend, wie geschwind die Mägde und Dienerinnen, die Knechte und Bediensteten eiligst die Tische zu decken, das Geschirr herzubringen und die köstlichsten Speisen aufzutischen vermögen.
Ich setze mich an meinen gewohnten Platz unter dem erhabenen Apfelbaum, zwischen den alten Mann, der dieses Jahr keine so grosse Rolle zu spielen scheint, und Magdalena, die sich von ihrer Arbeit in der Küche ausruht. Mir gegenüber hat Mylord Platz genommen, vis-a-vis von Magdalena Moritz.
Ich sehe die bildschönen Prinzessinnen, welche mit ihren Brüdern, den Prinzen, etwas separat an einem Tisch sitzen. Die Prinzessinnen wirken unbeschwert und frisch wie der Morgentau, was nicht verwunderlich ist, haben sie ja auch all die Angst und Bangnis verschlafen. Sie kichern und glucksen, schauen ab und zu verschämt zu Moritz, Max und Phil, um dann erneut in fröhliches Gelächter auszubrechen.
Den Riesen wurde in aller Eile ein grosser Tisch und zwei Bänke herangetragen, sie sind, wie bereits einmal erwähnt, mehr als zwei bis drei Köpfe grösser als der grösste Kerl, den Moritz je gesehen hat.
Ich erspare dir, liebe Kathrin, die Aufzählung all der Köstlichkeiten, die aufgetragen sind, doch lass dir gesagt sein, es muss ein Menu mit fünf Gängen sein, mindestens.
Ich jedenfalls labe mich zuerst an einer delikaten, nach einem Hauch Koriander schmeckenden Randensuppe, esse danach ein in Weinblätter gewickeltes feines Etwas, wobei ich nicht sicher bin, ob die köstliche Masse aus roten Linsen besteht, dazu nehme ich ein pikantes Brötchen, danach eine köstliche Wurst, die köstlichste, die ich je gekostet habe, noch eines der pikanten Brötchen, ein Salat aus frischen Blättern von Löwenzahn, Giersch, Knoblauchrauke und Blütenknospen von Gänseblümchen und Bärlauch, und zum Dessert ein Stück einer halbwarmen Schokoladentorte, die zauberhaft nach Orange duftet.
«Na, hat’s geschmeckt?», fragt mich Magdalena.
«Fabelhaft!», gebe ich ihr zur Antwort.
Der König erhebt sich: «Jetzt wollen wir Mylord zuhören, wie es ihm ergangen ist.»
Doch Mylord schaut mich an. Gütig. «Die Märchenerzählerin wird erzählen, wie ich doch noch den unbezwingbaren Glasberg bezwang.»
Episode 25
Ich soll nun die Geschichte zu einem guten Ende bringen.
Der lebende Beweis, dass es ein Ende geben muss, sitzt mir gegenüber. Ich kann, wie bereits einmal so geschehen, im Prinzip den Faden nur noch abspulen. Doch ich stecke in der Zwickmühle. Wie soll ich Mylord nun nennen? Kerl, Knecht, der Namenlose oder Mylord? Noch weiss ich nicht, wie Mylord zu Mylord wurde, war er doch einst ein abenteuerlustiger Geselle.
Mylord sieht mich verständnisvoll an. Ich räuspere mich.
«Ein Jahr lang verbrachte der Kerl in seiner Hütte und beobachtete jeden Tag die verwünschte Königstochter, die einmal am Tag mit ihrer Kutsche um das goldene Schloss Stromberg fuhr. Als er wieder einmal aus seiner Hütte schaute, gewahrte er drei Räuber, die sich gegenseitig schlugen. Er rief: “Gott sei mit Euch!“. Sie hielten inne, als sie aber niemanden sahen, fingen sie wieder an sich zu schlagen und das war ganz gefährlich. Da rief der Kerl abermals: “Gott sei mit Euch!“ Sie hörten wieder auf, guckten sich um, weil sie aber niemanden sahen, fuhren sie auch wieder fort, sich zu schlagen. Da rief er zum dritten Mal: “Gott sei mit Euch!“ und dachte bei sich “Du musst sehen, was die drei vorhaben“, ging hin und fragte, warum sie aufeinander losschlügen. Da sagte der eine, er hätte einen Stock gefunden, wenn er damit wider eine Türe schlüge, so spränge sie auf. Der andere sagte, er hätte einen Mantel gefunden, wenn er den umhinge, so wäre er unsichtbar. Der dritte aber sprach, er hätte ein Pferd gefangen, damit könnte man überall hin reiten, selbst auf den gläsernen Berg hinauf. Da sprach der Kerl: “Die drei Sachen will ich euch eintauschen. Geld habe ich zwar nicht, aber andere Dinge, die mehr wert sind. Doch muss ich vorher eine Probe machen, damit ich sehe, ob ihr auch die Wahrheit gesagt habt.“ Da liessen sie ihn aufs Pferd sitzen, gaben ihm den Stock und hingen ihm den Mantel um. Da aber konnten sie ihn nicht mehr sehen. Er aber sprach: “In meiner Hütte liegt mein Proviant: Fleisch, Brot und Wein. Diese werden nicht alle. Das gebe ich Euch im Tausch gegen den Mantel, das Pferd und den Stock-“, sagte es und preschte davon, schnurstracks den Glasberg hinauf. Und als er oben vor das Schloss kam, so war es verschlossen. Da schlug er mit dem Stock an das Tor, und alsbald sprang es auf. Er trat ein und ging die Treppe hinauf bis oben in den Saal. Da sass die Jungfrau und hatte einen goldenen Kelch mit Wein vor sich. Sie konnte ihn aber nicht sehen, weil er den Mantel umhatte. Und als er vor ihr stand, zog er den Ring, den sie ihm gegeben hatte vom Finger und warf ihn in den Kelch, dass es klang. Da rief sie: “Das ist mein Ring, so muss auch der Kerl da sein, der mich erlösen wird.“ Sie suchten im ganzen Schloss und fanden ihn nicht, er war hinausgegangen und hatte sich aufs Pferd gesetzt und den Mantel abgeworfen. Wie sie nun vor das Schloss kamen, sahen sie ihn und schrien vor Freude. Da stieg er ab und nahm die Königstochter in den Arm. Sie aber küsste ihn und sagte: “Jetzt hast du mich erlöst, und morgen wollen wir unsere Hochzeit feiern.“»
Ich halte inne. Schweigen. Das habe ich nicht erwartet. Ich hätte einen Tumult erwartet, eine Aufregung. Die Szene ist jedoch wie schockgefroren, als hätte die Zeit selbst innegehalten. Vielleicht endet die Geschichte hiermit?
Ich habe mir verschiedene Szenarien ausgedacht. Du weisst ja, dass das von mir Geplante regelmässig nicht eintrifft. Vielmehr handeln die Märchenfiguren anders, ungewohnt, unverhofft. Je genauer ich mir etwas zurechtgelegt habe, desto dicker ist der Strich, den sie durch meine Rechnung machen. Darum bin ich jetzt so verblüfft. Sie sollten jetzt anders handeln. Aber sie handeln gar nicht.
Ich sehe mich um. Der ganze Hofstaat macht keinen Wank, kein Zwinkern mit den Augen, nicht einmal einen einzigen Atemzug kann ich ausmachen. All meine Pläne haben sich in Luft aufgelöst, auch der, dass die Pläne über den Haufen gerührt werden. Die Geschichte macht keinen Ruck.
Da weht ein Windstoss durch den Hof, die Blätter des Apfelbaums rascheln über mir, eine Amsel fängt zaghaft an zu singen. Mylord, der mir gegenübersitzt und in das Glas Wein vor sich gestarrt hat, hebt seinen Blick, lächelt. Ich atme durch und auf. Erst jetzt gewahre ich, dass selbst ich den Atem angehalten habe.
«Nun denn, der Kerl, den die Königstocher umarmt und geküsst hatte, begann zu lachen und sprach: “Es wäre mir eine Ehre, Euch zu ehelichen. Doch mit Verlaub, ich bin viel zu alt für Euch, ich könnte Euer Vater sein, nicht Euer Gatte. Ihr braucht einen feschen, kraftvollen, jungen, hübschen Prinzen. Nicht mich.“ Die Königstochter war etwas verdattert, aber dann lachte auch sie: “Ich habe immer gedacht, ich müsse den heiraten, der mich erlöst, so will es doch die Geschichte! Doch kommt jetzt herein, Ihr sollt Euch stärken! Ihr habt ja ein ganzes Jahr gebraucht, bis Ihr eine Lösung gefunden habt, um den Glasberg zu bezwingen.“ Denn auch sie hatte ihn heimlich beobachtet, hat zu ihm hinuntergeschaut, wie er geduldig gewartet hat. Auch sie hatte sich in Geduld wappnen müssen.
Und wie sich der Kerl noch rasch umschaute, draussen vor dem Schloss, war der Glasberg verschwunden. Vielmehr lag das goldene Schloss auf einem lieblichen Hügel, nicht weit entfernt von der Kneipe, die wir inzwischen gut kennen. Als sie den Hof betraten, wischte dort ein Gärtner die Wege. “Das hier ist der einzige Mann, den wir im goldenen Schloss beherbergen. Es soll Euer persönlicher Diener sein“, regelte die Königstochter im Vorbeigehen die Sache, “Ihr braucht doch einen persönlichen Kammerdiener, oder nicht?“
Sie blieb stehen: “Jetzt habe ich in meiner Freude Euch einen Heiratsantrag gemacht, aber ich kenne ja nicht einmal Euren Namen!“. “Mein Name tut nichts zur Sache!“, erwiderte der Kerl. “Dann ernenne ich Euch zum Mylord. Mit Mylord sollt Ihr künftig angesprochen werden, wenn Euch das Recht ist!“
Im Saal des goldenen Schlosses herrschte Hochbetrieb. Die Köchinnen und Dienerinnen, die Zofen und Mägde, alle waren sie bemüht, ein köstliches Essen zuzubereiten, den Tisch im Erker des Saals zu decken. Kerzen wurden in den Leuchtern angezündet. Kurz, der Saal wurde festlich geschmückt.
Während der Mahlzeit, die beinahe so köstlich war wie das Bankett heute und hier, tauschten sich die beiden aus. Die Königstochter erzählte, weshalb sie verwunschen wurde, Mylord erzählt, weshalb er vom Königshof, wo er einst gedient hatte, das Weite suchte. Als die Königstochter Mylord erklärte, wo sich das Schloss befindet, wo sie zur Welt kam, wurde Mylord bleich. “Das ist das Schloss, wo ich damals diente!“ platzte er heraus. “Dann habt Ihr das Leben meiner Mutter gerettet? Dann war meine Mutter die Tochter des armen Müllers?“, rief die Königstochter bass erstaunt aus, “Dann ist es sie, zu der Ihr Eure Liebe in Eurem Herzen bewahrt habt“?»
Ich weiss nicht, wer den letzten Satz noch gehört hat, denn ein Tumult geht los.
Es sind vor allem die Söhne, die Prinzen, die fassungslos aufschreien, ich höre Ausrufe wie: «Du warst die Tochter des Müllers, Mutter?», «Du hast unsere Mutter mit dem Tod bedroht, Vater?», «Hast du den Kammerdiener geliebt, Mutter?“»
Mylord steht auf. Er geht zur Königin, die sich nun auch erhoben hat. Er greift in die Tasche des Mantels und überreicht ihr etwas, das wir nicht zu sehen vermögen, es muss etwas Kleines, Schlichtes sein, nun denn, er reicht ihr das Kleine, Schlichte mit den Worten: «Ich habe Euren Ring und Eure Kette wohl verwahrt, das ist der Beweis, dass ich es bin», und sie fallen sich in die Arme, die Königin schluchzend, Mylord, lächelnd.
«Du wirst mich verlassen?», stammelt der König totenbleich.
Die Königin schaut auf, schaut Mylord eindringlich an: «Wo ist Sophia?»
«Hier bin ich!», ruft das Sophia, die soeben auf einer weissen Stute durchs Tor hereinreitet, vom Pferd springt, zu ihrer Mutter hastet, sie herzt und küsst und vor Freude weint. Beide weinen vor Freude.
«Wollen wir?», ich habe Mylord nicht kommen sehen.
«Wie meint Ihr? Was sollen wir wollen?»
«Nun, ich begleite Euch zurück!»
«Die Geschichte ist nicht zu Ende!», protestiere ich.
«Ach, es wird nicht mehr viel vorfallen. Sophia wird ihre Eltern, Geschwister und den ganzen Hofstaat zu sich ins goldene Schloss von Stromberg einladen. Sie werden zur Kreuzung gelangen, die Ihr bereits gut kennt. Dort wird in Richtung Norden stehen: “ Zum Schloss Stromberg, wo Hochzeit gefeiert wird“.»
«Wer feiert Hochzeit?», frage ich neugierig.
Nun Sophia. Sie hat sich in einen Königssohn verliebt, der einmal auf Reisen bei ihr vorbeigekommen ist.»
«Und Ihr und die Königin? Werdet Ihr sie ehelichen?», wage ich weiterzuforschen.
«Wie soll ich das wissen? Das ist ihre Sache.»
«Würdet Ihr sie denn heiraten?»
«Wenn sie das möchte, ja.»
«Und wenn nicht?»
«Ich werde meine Liebe zu ihr immer im Herzen bewahren. Dazu muss ich nicht verheiratet sein», Mylord sieht mich mit Milde und Güte an.
Da höre ich einen freudigen Jubelruf: «Oh, schaut doch! Man sieht die goldenen Zinnen des Schlosses Stromberg dort in der Ferne in der Abendsonne leuchten!»
Liebe Kathrin. Mein Herz ist so schwer. Ich möchte nicht Abschied nehmen. Ich möchte hierbleiben.
Mylord nimmt mich beim Arm. Wir machen zwei drei Schritte durchs Tor, ja ich sehe die goldenen Zinnen des goldenen Schlosses von Romberg am Horizont, und noch einen Schritt oder zwei, da sind wir schlagartig im Wald, beim Weg, wo die Tollkirschen im Sommer blühen, hier, wo ich mich auskenne. Es ist leicht neblig, doch die Sonne bricht durch.
Mylord bleibt stehen, deutet eine Verbeugung an: «Ich wollte schon immer, dass Ihr meine Geschichte erzählt, Mylady, Ihr wisst auch weshalb. Das habt Ihr nun aufs Vortrefflichste getan.»
Ich weiss, was er meint. Die Überlieferung ist verzerrt, hat ihn zum Zwerg, zum Wicht verbogen. Da überkommt mich jählings ein Gedanke, der mich erschüttert: «Ihr wolltet ihr Kind, wolltet es unbedingt. Es war immer das Eure!»
Mylord lächelt mir zu, mit Milde und Güte. Lächelt, deutet eine Verbeugung an, zieht seinen Mantel enger um sich, was ich verstehe, sind wir doch geradewegs vom lauen Frühling in den nebligen Spätherbst gelangt, macht kehrt und verschwindet im dichten Gebüsch, aus dem er einst aus dem Nichts erschienen ist.