- 0 - Prolog

Liebe Kathrin. Du fragst, ob ich wieder eine Adventsgeschichte erzählen oder vielmehr aufschreiben werde? Die Lust zu spintisieren ist mir ein bisschen abhandengekommen, muss ich gestehen, der Schnauf ausgegangen. All die vielen schlimmen und brutalen Nachrichten allenthalben, die vertreiben die fröhlichen Gedanken. Ach, vielleicht liegt es auch an diesem andauernden düsteren, feuchtkalten, regnerischem und windigen Wetter.

Ich soll es einfach wagen, zum Schloss, vielmehr in den Schlosshof gehen oder fliegen, oder wie immer ich dies auch anstelle, mich auf die hölzerne Bank unter den Apfelbaum setzen, die Sonne werde bestimmt scheinen, sagst du, so könnte ich mich aufwärmen. Ich könne meine Blicke in die Ferne schweifen lassen, über das friedliche, liebliche Land. Da und dort würden kleine Weiler eingebettet zwischen Wiesen und Äcker und kleinen Wäldchen liegen. Ich würde die Rosse im Stall oder auf der Weide wiehern und schnauben hören, die Kinder im Schlosshof würden fangen spielen oder Lieder singen. Das würde mich aufmuntern, ermunterst du mich. Der alte Mann würde die Rosen schneiden, oder die Wege wischen. Ach, Kathrin! Du hast leicht reden. Damit ist noch keine Geschichte erzählt.

Und überhaupt: Weisst du wie schwierig es ist, zu erklären, dass ich in eine Märchenwelt abtauche, die ich aber so erzähle, als sei sie Wirklichkeit? Weisst du wie kompliziert es erst wird, wenn all die anwesenden Personen, Königin und König, deren Kinder, die Köchin Berta und ihre Magd Magdalena, auch Robin, die Dienerinnen, und Knechte, der Finanzvorstand, der Jägermeister – einfach das ganze Gesindel, das zum Betrieb des Schlosses gehört, auftaucht und im Märchen, das ich erzähle, eine Rolle spielen möchte? Dass sich so eine Märchenwelt in der Märchenwelt auftut? Der König plötzlich ein Knecht darstellt oder umgekehrt. Die Magd zur Königin wird und .... Ich mag gar nicht dran denken.

Aber so könnte es noch funktionieren, wenn jede und jeder eine Rolle übernehmen und diese auch kongruent spielen würde.

Aber die Schlossgemeinschaft ist keine einfache, lass das dir gesagt sein. Die schauspielern sich vom Erzählstrang weg, dass dir Hören und Sehen vergeht. Oder sie streiken. Oder erfinden das Märchen neu. Plötzlich platzen Gestalten aus anderen Märchen herkommend, in die Geschichte hinein. Es ist ein Drunter und Drüber.

Ich muss zugeben, wenn das Geschehen so richtig Fahrt annimmt, die Geschichte Schwung bekommt, grosse Emotionen da sind, dann bin ich plötzlich Teil darin. Ich schaue nicht mehr bloss zu, unsichtbar, sondern ich BIN die Märchenerzählerin, die ich vorhin noch vor mir sah. Ich lache, ich weine, ich höre zu, ich gebe Rat, ich frage, ich esse und trinke, gehe in die grosse Schlossküche. Ich bin wahrhaftig mittendrin. Keine Ahnung, wie das genau geschieht, welcher Zauber da wirkt. Wenn dann jemand fragt, wer ich nun wäre, die Märchenerzählerin, oder jene, die das Geschehene aufschreibt, dann kann ich keine Antwort geben. Denn dann bin ich beides.

Zu guter Letzt sagen dann diejenigen, die friedlich am Laptop sitzend, die Adventsgeschichte lesen, sie hätten den Faden verloren.

Ha! Als hätte ICH den Faden, irgendeinen Faden in den Händen. Als könnte ich da steuernd eingreifen. Die haben keine Ahnung, die Leser und Leserinnen der Adventsgeschichte. Keine blasse Ahnung!

Ach, weisst du was? Ich pfeife drauf und verschwinde jetzt. Du hast recht. Es muss jetzt Frühling sein dort. Ich brauche ein bisschen Sonnenwärme. Dringend. SOFORT!

- 1 - Frühling

Wir befinden uns in dem uns allbekannten und altbekannten Schlosshof. Es ist Frühling. Der Apfelbaum blüht weiss und rosa, Tulpen und gelbe Färberkamillen leuchten in den Rabatten, Gänseblümchen, Wiesenschaumkraut und Schlüsselblumen im Rasen. Die Rosen ranken zwischen Geissblatt und Hopfen blühend und duftend die Schlossmauern empor. Tauben turteln auf den Zinnen der zahlreichen Schlosstürmchen. Der alte Mann stützt sich auf seinen Besen, mit dem er sonst die Wege wischt, und hält sein Gesicht zur Sonne hin, die Augen geschlossen. Die Märchenerzählerin sitzt auf der hölzernen Bank unter dem Apfelbaum, lässt sich von der Sonne wärmen. Auch sie hält die Augen geschlossen, scheint die Ruhe zu geniessen und mit allen Sinnen den wunderbaren Frühlingstag in sich aufzunehmen.

Da schreitet der König himself vom Schloss her geradewegs auf die Märchenerzählerin zu und räuspert sich.

König: Mit Verlaub!

Märchenerzählerin, überrascht: Mein König!

König: Ihr seid da. Dann wird es wieder so weit sein? Ich meine: Ihr, die Märchenerzählerin seid hier! Der König strahlt übers ganze Gesicht.

Märchenerzählerin, seufzend: Es scheint so.

König: Ihr zögert? Aber Ihr werdet ein Märchen erzählen, oder etwa nicht? So will es der Brauch, oder nicht?

Märchenerzählerin: Ich wünschte, ich hätte nur Urlaub bei Euch in Euerem märchenhaften Lande und nichts weiter zu tun.

König: Aber, aber. Also aber meine Liebe, ihr sollt mit allem verwöhnt werden, wie seit ehedem. Wenn ihr nur Euren Pflichten nachkommt, ähm, ich meine, wenn ihr Lust dazu verspürt, ich will sagen ....

Märchenerzählerin: Ich weiss, mein König. Aber ich befürchte ....

König: Genau deswegen bin ich hier. Ich befürchte ebenfalls.

Märchenerzählerin, stutzig: Ebenfalls?

König, sich ereifernd: Oh ja! Ich befürchte, ich erhalte wieder eine böse Rolle. Es gibt keine guten Rollen für Könige in den Märchen. Die Könige sind gierig oder grausam. Oder schlimmer noch: Sie werden übertölpelt, stehen da wie Trottel... oder glänzen durch Abwesenheit. Oder schlimmer noch: Sie machen schöne Versprechungen und halten sie nicht ein. Lassen ihre Liebsten im Stich. Daher befürchte ich .... Ihm ist der Schnauf ausgegangen.

Märchenerzählerin: In der Tat. Gute Könige sind rar. Meistens sind die guten die sterbenden Könige, die auf ihrem Sterbebett ihre Kinder auf eine Schatzsuche schicken, Lebenswasser zu holen oder ähnliches.

König: Ein sterbender, alter König möchte ich nicht spielen, keinesfalls.

Märchenerzählerin: Ich verstehe Euch nur zu gut!

König: Könnt Ihr mir deshalb versprechen, dass ich heuer ...

Aber da erscheint ein bisschen arg schnaufend, die gute Berta und hinter ihr Magdalena, Kuchen und Kaffeegeschirr tragend. Weiter hinten folgen ihnen zwei junge Gesellen mit einem hölzernen Tisch, danach all die fröhlichen und emsigen Küchenmägde, die das Geschirr herbeitragen, Kuchen und Torten, Krüge mit Wein, dampfendem Kaffee und gläserne Wasser-Karaffen, in denen Blüten und Blättchen schwimmen. Und Vieles, Vieles mehr.

Berta, ein wenig vorwurfsvoll, an den König gewandt: Wie konntet Ihr nur?

König, verdattert: Ich wollte doch nur, es ist doch wegen ...

Berta: Wie konntet ihr nur die arme Märchenerzählerin ohne Speis und Trank lassen!

König: Ach! Ja, du hast Recht, meine Gute. Ich hätte dich sofort benachrichtigen sollen. Es ging mir eben um meine Rolle als König.

Berta: Ihr seid der König hier. Niemand macht Euch Eure Rolle streitig.

König, zaudernd: Mir geht es nicht um meine Rolle hier. Mir ging es um meine Rolle als ...

Berta, den Kopf schüttelnd: Ach so, Ihr wolltet Euch einen Vorteil verschaffen?

König: Mehr meine Bitte anbringen.

Berta: Eine Bitte? Verträumt: Eine Bitte? Ach, eine Bitte hätte ich auch! Sich um sich selbst drehend. Wenn es möglich wäre, dann würde ich zumindest für kurze Zeit ... meine gedrungene Gestalt gegen eine junge, ranke tauschen ... mein runzeliges Gesicht mit einem glatten, sanften wechseln. Ich würde auch einmal nicht einfach nur die Köchin sein. Obwohl. In bin zufrieden damit, bin ich gerne die Köchin hier, versteht mich nicht falsch. Ich liebe es, von früh bis spät in der Küche zu stehen und in meinem Kräuter- und Gemüsegarten zu arbeiten. Das mag ich sehr. Träumerisch: Aber für kurze Zeit nur – eine Märchenspanne lang – jemand ganz anderes zu sein. Ja, das würde mir guttun, denke ich. Noch verträumter: Etwas Schalk müsste ich versprühen, die Leute ein bisschen hochnehmen oder gar aufs Kreuz legen. Oder eine verkannte Königin sein ...

Noch während sie sich mit ungewohnter Leichtigkeit ein wenig hin und her bewegt, um sich selbst dreht, als wäre sie ein junges Mädchen und würde zum Vogelgezwitscher tanzen, erscheint die Königin im Schlepptau ihrer zwei allerliebsten Prinzessinnen Anni und Kathi.

Königin, zur Märchenerzählerin gewandt: Geht es Euch gut, meine Liebe? Habt Ihr alles, um Euch zu erfrischen? Nickend: Ich sehe, Berta hat euch wohl versorgt, Magdalena gisst ja bereits den Kaffee ein. Bedient Euch. Zu den Prinzessinnen gewandt. So lasst uns setzen und den Nachmittag mit Kuchen und Tee feiern und uns auf den Beginn des Märchens vorfreuen. Mit einem Nicken zum König hin und zur Märchenerzählerin gewandt: Er hat euch bestimmt bereits erklärt, dass er gerne ein fescher Jägersmann spielen möchte, oder irgendwen, nur kein König. Lieber ein Zwerg oder Troll, oder Riese oder Graf oder Küchenjunge.

Prinzessinnen, unisono: Wir möchten auch mitspielen! Nicht nur Zuschauerinnen sein. Bitte, bitte, liebe Märchenerzählerin. Wenn es auch nur eine kurze Rolle sein wird. Lass uns mitspielen!

Magdalena, bescheiden, die königliche Familie und die Märchenerzählerin bedienend, mit einem leisen Seufzer, zu sich selbst, und sehr leise: Das würde ich auch gerne tun. Mitspielen.

- 2 - Geschenke

Märchenerzählerin, im Dunkeln sitzend, nur ein Lichtstrahl beleuchtet sie, als würde sie auf einer Bühne sitzend von einem einzelnen Scheinwerfer angestrahlt.

Siehst du, liebe Kathrin, wie schwierig das alles ist? Ich wollte eigentlich das Märchen vom Mädchen ohne Hände erzählen. Dort hätte der König die Rolle des Müllers gespielt, welcher vom Teufel auf Übelste überlistet wurde und zuletzt dem eigenen, geliebten Kind die Hände hätte abhacken müssen. Das geht nun nicht mehr. Ich muss umdenken. Was sagst du da? Dies Märchen wäre eh zu brutal und deshalb nicht kinderfrei? Es geht ums Symbolische, meine Liebe, dass der Müller sein Kind nicht bedingungslos liebt. Dass das Mädchen sich um sich selbst und sein Glück kümmern muss, aber zuletzt obsiegt. Und selbständig wird. Die andere Müllergeschichte kann ich nun auch nicht mehr erzählen. Da geht es um die Angeberei und eben um die fehlende bedingungslose Liebe zum eigenen Kind. Was sagst du da? Du wünschst dir ein liebliches Märchen, ohne Tod und Verderben? Sind sie denn nicht alle auf irgendeine Art grausam? All die vielen Märchen in den dicken Märchenbüchern? Kinder werden allein in den Wald geschickt, ausgesetzt und verstossen, oder eingesperrt, vergiftet und weiss Gott noch alles. Kinder müssen Hexen in den Ofen schieben, Tiebräuche aufschneiden und sie mit Wackersteinen füllen und obendrein wieder zunähen, und vieles, vieles Grausliche mehr. Die Bösewichte wiederum werden gevierteilt, in mit Nägeln gespickte Fässer gesteckt, die man den Hügel hinunterrollen lässt, oder auf dem Scheiterhaufen elendiglich verbrannt. Aber du, du verlangst ein liebliches Märchen?

Plötzlich ist es wieder hell. Es ist immer noch Kaffee und Kuchenplausch unter dem blühenden Apfelbaum. Der alte, Mann, der den Besen beiseitegestellt hat, ist ebenfalls zum Tisch getreten und stupst die Märchenerzählerin leicht an.

Alter Mann: Geht es Euch gut? Ihr wirktet abwesend, wie der Welt entrückt.

Märchenerzählerin, gibt sich einen Ruck: Es ist alles gut. Danke dir. Ich war nur mit meinen Gedanken ganz woanders. Komm, setz dich neben mich. Die Kuchen sind einfach zu köstlich!

Wird da nicht die Sonne ein wenig heller? Nicht grell, sondern wärmender. Hört man nicht ein hauchfeines Klingeln in der Luft? Wie von tausend kleinen Himmelsglöckchen. Jetzt! Jetzt hört man Hufgetrappel, jemand nähert sich im Galopp dem Schloss. Noch sieht man nicht, wer da herankommt. Es geht ein Strahlen von der herankommenden Person aus, obwohl sie noch nicht sichtbar irgendwo im Gelände verdeckt hinter der Schlossmauer herannaht. Vögel beginnen zu jubilieren, federleichte Schmetterlinge fliegen auf und erfüllen die Luft.

Die Antlitze der Anwesenden beginnen zu leuchten. Und zu lächeln. Die Märchenerzählerin sitzt verwundert mitten unter ihnen, staunend und gespannt, wer da kommen wird. Das Ross, so hört man jetzt, muss vom Galopp in den Schritt gefallen sein. Und jetzt! Jetzt taucht eine leuchtende Gestalt hoch zu Ross auf. Ein lächelndes Mädchen, mit goldenem Haar, glänzend wie die Sonnenstrahlen, gekleidet mit einem hellblauen Gewand. Jetzt gleitet das Mädchen geschmeidig von einer schwarzen Stute. Ein Leuchten breitet sich auf des Königs Antlitz. Er steht auf, eilt dem Mädchen entgegen, fasst es um die Hüfte und wirbelt es herum.

Lisa: Aber Papa, nicht so wild!

Der Angesprochene setzt es sanft und liebevoll auf den Boden.

Königin: Gut, dass du kommst, Lisa. Bald hätten wir das letzte Stückchen des Kirschkuchens, denn du ja so gerne hast, aufgegessen. Beinahe hättest du dein eigenes Geburtstagsfest verpasst.

Anni und Kathi unisono: Und erst der Schokoladenkuchen! Himmlisch! Den musst du unbedingt kosten.

Kathi: Aber mit Schlagsahne, da schmeckt er gleich doppelt so lecker. Nachdenklich: Vielleicht kostest du gescheiter zuerst den Erdbeerkuchen! Oder das Lavendeleis? Schwärmerisch: Oder vielleicht doch die Marzipantorte? Ein Gedicht! Am besten probierst du einfach all die vielen leckeren Köstlichkeiten, liebes Schwesterchen!

Lisa, neckend: Wir wissen alle, was für ein Schleckmaul du bist, liebe Kathi.

Märchenerzählerin noch immer verwundert zur Königin: Wer ist das strahlende Mädchen?

Königin, freudig: Aber das ist doch Lisa, unsere Tochter, die jüngste. Fünfzehn Jahre alt wird sie heute. Ihr Vater hat ihr das schwarze, edle Pferd zum Geburtstag geschenkt.

Märchenerzählerin, immer noch verwundert: Ich sehe das Mädchen zum ersten Mal.

Königin, nun ebenfalls erstaunt: Wie konntet Ihr sie nicht bemerken? Sie versprüht einen Zauber, der alle in den Bann nimmt. Wenn sie in ein Zimmer tritt, ist es, als ob der Frühling selbst eintreten würde. Allen wird leichter ums Herz. Und wenn sie weint, was Gott sei Dank selten geschieht, da fallen ihr anstelle von Tränen Perlen aus den Augen. So besonders ist sie.

Zu allen gewandt: Aber lasst uns nun weiter Geburtstag feiern, denn auch ich habe ein Geschenk für meine liebe Lisa, über das sie sich bestimmt freuen wird.

Sagt's, greift in die Tasche und nimmt ein kleines Päckchen hervor und reicht es Lisa, die es öffnet und einen leisen Schrei ausstösst. Es ist ein kleines Büchslein aus einem einzigen Smaragd gefertigt. Lisa öffnet das Büchslein: eine winzig kleine Perle liegt darin.

Königin, erklärend: Das war deine erste Perlenträne, die du geweint hast, kurz nachdem du zur Welt kamst. Ich habe sie wohl aufbewahrt und schenke sie dir jetzt. Das Büchslein ist uralt, es kommt aus einem fremden, weit entfernten Land, von einem der heiligen drei Könige soll es herstammen. In Gedanken verloren: Von Balthasar wird nämlich berichtet, dass er der heiligen Maria so ein kleines, aus einem einzigen glasklaren, grünen Smaragd geschnittenes Büchslein geschenkt habe. Eine winzige Perle soll darin gelegen haben. Vielleicht war es auch eine Freudenträne der Maria über die Geburt ihres kleinen Söhnchens. Die Perle ging verloren, das Büchslein verschenkte Maria einer ägyptischen Dame, die ihnen Obdach gewährte. Dann, so die Legende, ...

Anni und Kathi die Königin unterbrechend: Wir haben auch ein Geschenk für Lisa. Sagen es und nehmen ein in Seidenpapier gehülltes Päckchen hervor und reichen es Lisa. Diese öffnet es und stösst nochmals einen kleinen Freudenschrei hervor. Es ist ein wunderschönes, mit kleinen silbernen und goldenen Pailletten besticktes, seidenes, hellblaues Kleid.

Lisa, sichtlich gerührt: Wie schön, wie unsagbar schön.

Anni: Wir wissen doch, dass du schöne Kleider liebst, vor allem hellblaue!

Kathi zu Anni, neckisch: Wer hier am Tisch ist es, welche schöne Kleider über alles liebt? Hm? Das bist wohl du, meine liebe Anni. Denk nur an das scharlachrote mit dem goldenen Schal, oder das nachtblaue, mit Sternen bestickte, oder ...

Anni, lachend: Du hast mich überführt! Ich gebe es zu: Ich stehe auf schöne Kleider und Schuhe und ... träumerisch: Blusen, Röcke, Kostüme ...

Kathi: Ja und du brauchst dazu sieben Schränke, um deine Lieblingsstücke zu verstauen, derweil ich nur einen einzige benötige.

Ach, es ist eine Freude, der königlichen Familie und überhaupt der ganzen Tischgemeinschaft zuzusehen. Sie sind so fröhlich, ausgelassen, necken sich, lachen und lassen es sich gut schmecken.

Da erhebt sich der König, majestätisch. Er hebt sein Weinglas und schlägt ganz sanft mit einem Löffelchen daran, dass es klingt, als hätte eine Glöcklein geläutet. Das Geplauder verstummt. Alle schauen erwartungsvoll zum König.

König: Ich muss euch etwas verkünden. Ich möchte die Zukunft meines Königreiches heute regeln. Nicht dass noch Streit ausbricht, wenn ich einmal sterben werde.

Kathi, erschrocken: Bist du etwa krank, mein allerliebster Papa?

König: Nein, mein Kind, mach dir keine Sorgen. Noch bin ich gesund und munter. Und trotzdem will ich heute regeln, wer von euch dreien mein Reich erben wird.

Anni: Wir wollen nichts erben, lieber, allerliebster Papa. Wir wollen bis in alle Ewigkeit mit euch allen weiterleben, hier. Sonst nichts.

König: So ist das Leben eben nicht, liebe Anni. Das Leben dauert nur in den Märchen ewig. Aber hier auf Erden ... Aber lasst mich jetzt fortfahren.

Lisa: Wir könnten dein Reich gemeinsam regieren und verwalten, lieber, gütiger Papa.

König, etwas ungehalten: Wollt ihr mich nun ausreden lassen oder nicht?

- 3 - Zorn

Die Märchenerzählerin ist erneut allein in einem dunkeln Raum, wie von einem einzelnen Scheinwerfer erleuchtet.

Hast du nun bemerkt, liebe Kathrin, wie sich alles einfädelt ohne mein Zutun? Noch eben war ich als Märchenerzählerin in einer realen Märchenwelt. Mit der Königin, dem König und ihren Kinder und ... wem auch immer. Wir sassen fröhlich unter dem Apfelbaum und liessen es uns schmecken. Und einen Augenblick später finde ich mich nichtsahnend mitten in einer mir fremden Geschichte. So vermute ich es zumindest. Der König und die Königin verhalten sich sonderbar, wie ich sie noch nie erlebt habe, ebenso die beiden Prinzessinnen Diese Lisa – ich habe sie noch nie gesehen. Mir sind nur zwei Prinzessinnen bekannt, aber die hatten andere Namen. Es gab bisher keine dritte Prinzessin... Auch wenn ... sie erinnert mich vage an jemanden anderen. Wenn ich's nicht besser wüsste, würde ich sagen, sie erinnert mich an Magdalena, die Küchenmagd. Was aber nicht sein kann, denn jene hat dunkles Haar und ist älter. Kurz und gut, liebe Kathrin. Schwupps bin ich nicht länger mehr die Erzählerin. Im Nu wurde ich zur Zuschauerin degradiert. Allenfalls darf ich das Ganze beobachten und protokollieren. Was sagst du? Ich soll meinen Mund halten und endlich weitererzählen? Du möchtest jetzt unbedingt wissen, an wen der König gedenke, sein Reich zu vererben?

Szenenwechsel. Wieder zurück im Schlosspark an der Geburtstagsparty von Lisa.

Der König steht nach wie vor aufrecht, Berta schenkt ihm neuen Wein ein.

Da herrscht er sie an: Ich brauche keinen Wein. Ich brauche etwas Stärkeres. Haben wir noch Cognac? Nein, ein alter, ehrwürdiger Armagnac wäre noch besser.

Alle sind verstummt. Verstehen nicht, was der plötzliche Ausbruch des Königs bedeutet. Endlich erscheint der Kellermeister mit einer Flasche tiefdunklen Armagnacs und einem wundervoll geschwungenem Glas.

Kellermeister, sich verbeugend und das Glas einschenkend: Mein König!

König, am Glas nippend: Herrlich!

Er schwenkt das Glas, schnuppert, atmet tief ein und nimmt einen wirklich einmalig grossen, eines Königs würdigen Schluck.

König, gibt sich einen Ruck: Ihr Lieben. Meine Lieben! Es fällt mir nicht leicht. Auch ich, so müsst ihr mir glauben, will kein sterbender König sein. Mit einem Augenzwinkern zur Märchenerzählerin: Ihr erinnert Euch?

Die Märchenerzählerin erleidet einen Hustenanfall, worauf der alte Mann sich liebevoll vorbeugt und ihr etwas ins Ohr flüstert. Sie schüttelt den Kopf.

Der König, wieder zu allen gewandt: Ja, es fällt mir nicht leicht, die Dinge heute zu regeln. Aber wie gesagt, ich möchte nicht auf dem Sterbebett irgendeinen Unsinn anordnen. Da sei Gott vor. Jetzt sieht er seine drei Töchter eidringlich an: Meine Töchter, niemand weiss, wann sein letzter Tag kommt, auch ich nicht. Deshalb möchte ich heute bestimmen, was eine jede nach meinem Tod erhalten soll. Mit einem tiefen, seufzenden Atemzug, ach, man merkt nur zu gut, wie schwer ihm seine Rede fällt: Ihr alle habt mich ja lieb, aber welche mich am liebsten hat, die soll das Beste erhalten.

Ein Raunen geht durch die Menge. Berta schüttelt den Kopf. Die Königin greift sich ans Herz.

Königin: Rudolf! Wie kannst du nur!

Anni, Kathi und Lisa unisono: Wie kannst du an unserer Liebe zu dir zweifeln? Wir haben dich alle lieb. Alle gleich lieb! Es gibt keinen Unterschied zwischen unserer Liebe zu dir!

Der König setzt sich enerviert in seinen königlichen Sessel: Ihr wollt mich nicht verstehen, scheint mir.

Königin: In der Tat. Ich verstehe dich ganz und gar nicht. Wie kannst du zwischen Liebe und Liebe entscheiden. Angewidert: Du bist ein Idiot!

Märchenerzählerin, leise zur Königin gewandt: Gabe es je Eifersüchteleien zwischen Euren Töchtern?!

Königin, mit einem entrückten Lächeln: Nein, nie! Gewiss, es gab ab und zu Streiterei. Es sind ja Geschwister, das gehört dazu. Aber nie, nie, nie hat sie ein Zwist entzweit. Anni und Kathi sind Zwillinge, die waren seit jeher ein Herz und eine Seele. Und Lisa – ihr habt sie ja selbst erlebt: Sie hat eine himmlische Gabe. Wo immer sie auch erscheint, wird allen leichter ums Herz. Sie ist die Versöhnung in Person!

Märchenerzählerin, sorgenvoll: Bei ihrem Vater scheint ihre Gabe nicht zu wirken.!

Der König stellt sein leeres Glas auf den Tisch, steht mit neuem Elan auf, und wiederum eindringlich seine drei Töchter fixierend: So sagt mir jede, wie sie mich liebt. Beschreibt sie mir eure Liebe, macht mir ein Beispiel dazu. Dann kann ich sehen, wie ihrs meint!

Kathi, zögerlich: Nun, wenn es denn sein muss: Ihr alle kennt mich ja, ich liebe Süssigkeiten über alles. Ihr nennt mich zurecht ein Schleckmaul. So sage ich dir, Vater, ich liebe dich wie den süssesten Zucker.

Anni, ebenfalls sehr zögernd: Ich liebe schöne Kleider, wie ihr alle wisst. Ihr macht euch immer wieder lustig über meinen Marotte. Ich muss ja oft selbst über mich lachen, ich mit meinen eintausendundeinen verschiedenen, zauberhaft schönen Kleidern, von denen ich kein einziges missen will. So sage ich dir Vater, ich liebe dich wie mein allerschönstes Kleid.

Lisa schweigt. Alle warten, dass auch sie sich erhebt und ihrem Vater ihre Liebe zu ihm schildert. Doch Lisa schweigt. Der König lächelt sie an.

König, ermunternd: Und du, mein liebstes Kind, wie lieb hast du mich?!

Lisa: Ich weiss nichts. Ich kann meine Liebe zu dir mit nichts vergleichen.

König: Ich beschwöre dich. Versuche es. Ich bestehe darauf!!

Lisa, zögernd: Nun denn. Die beste Speise schmeckt mir nicht ohne Salz. Selbst das Brot, selbst der beste Kuchen würde nicht schmecken, wenn nicht zumindest eine kleine Prise Salz darin wäre. Darum, liebster Vater, ich habe dich so lieb, wie ich das Salz lieb habe.!

Der König hält den Atem an. Eine dunkle Falte furcht sich steil in seine Stirn. Sein Gesicht rötet sich. Alle Schweigen. Alle harren erschrocken der Dinge, die da kommen werden, will sagen, was der König zu seiner liebsten Tochter Liebeserklärung sagen wird.

König, jetzt purpurrot im Gesicht und schäumend vor Wut brüllt: Wenn du mich so liebst wie Salz, so sollst du mit Salz belohnt werden. Ich teile mein Reich unter deinen beiden älteren Schwestern auf. Aber du, du – Abschaum, Undankbare – dich verweise ich aus meinem Königreich. Ich möchte dich nicht mehr sehen, nie mehr. Du sollst meine Tochter nicht sein. Weg! Geh mir aus den Augen! SOFORT!

Und der König hiess zwei Diener, einen grossen, leinenen Sack mit Salz füllen, den mussten sie dem armen Mädchen auf den Rücken binden und es hinaus geleiten, bis dort, wo der wilde Wald beginnt und sie dort ihrem Schicksal überlassen.

- 4 - Bestürzung

Nimm es mir nicht übel, liebe Kathrin, dass ich gestern nicht mehr weiterschreiben konnte: Nach dem königlichen Wutausbruch war ich so bestürzt. Ich musste zuerst einmal darüber schlafen.

Ja, ich war fassungslos. Wir alle waren fassungslos und entsetzt, als der König seine jüngste Tochter mit so harten, und erbarmungslosen Worten aussprach und sie vom Hof vertrieb. Ich blickte zur Königin. Ihre Augen waren aufgerissen, ihr Mund ebenso, also würde sie schreien, aber es kam kein Laut über ihre Lippen. Ihre Hände hielt sie in Höhe des Kopfes, also müsste sie ihren Mund dazu bringen, endlich loszuschreien. Ein stummer Schrei. Das hat mich zutiefst erschüttert, mehr noch als die unsäglichen zornigen Worte des Königs. Alle waren wir verstummt. Selbst die Vögel hatten aufgehört zu zwitschern und jubilieren. Selbst der sanfte Wind, der vorhin noch die frühlingsgrünen Blätter der Bäume sanft gewiegt hatte, ja selbst der Wind war verstummt. Auch die unzähligen Blüten hatten ihre Leuchtkraft verloren. Farblos und ermattet sassen oder hingen sie an ihren Stängeln.

Auf einmal, als wäre ein Damm gebrochen, begann die Königin zu schreien. Es war ein unmenschlicher Schrei. Wie derjenige eines Schafes, das von einem Wolf lebendigen Leibes zerrissen wird. Die Prinzessinnen begannen herzerweichend zu weinen und rannten zu ihrer jüngeren Schwester, hielten sich gegenseitig fest. Alle seufzten, weinten, schluckten schwer. Nur Lisa stand noch immer da, als wäre sie erstarrt, in den Armen ihrer Schwestern. Starr starrte sie ihren Vater an. Dieser hielt ihrem Blick stand, unbeweglich und starr auch er.

Ich erwartete jeden Moment, dass ich aus einem bösen Albtraum erwachen würde, dass das Geschehene gar nie stattgefunden hätte. Es konnte doch nicht wirklich geschehen sein. Ich blinzelte, rieb mir die Augen. Ich kniff mich in den Arm. Es war Wirklichkeit.

Endlich bewegte sich der König. Seine Miene war eiskalt. Er machte einen Schritt auf Lisa zu. Nein, ich hatte mich getäuscht, er schritt erhobenen Hauptes zum Schloss, ohne Lisa noch eines Blickes zu würdigen. Lisa, immer noch starr, aber Perlen rieselten wie ungewollt aus ihren Augen.

Als erste fasste sich Berta, die Küchenkönigin, die pragmatische, geerdete. Sie fasste Lisa bei den Armen und zerrte sie weg vom Hof zum Schloss. Kurze Zeit darauf führten die beiden Diener des Königs Lisa zum Tor. Lisa, in einem praktischen, wettersicheren Gewand gekleidet, mit einem Sack auf dem Rücken. Ich ahnte mehr, als dass ich wusste: Das Wichtigste für das Leben in der Wildnis hatte Berta in diesen Sack gepackt und nicht wie verlangt das Salz. Doch würde Lisa ohne allen königlichen Support überleben, da draussen im Wald, jenseits des Königreichs?

Lisa hatte nicht aufgehört zu weinen. Es war ein stilles, stummes Weinen. Nur die herabkugelnden Perlen zeugten von ihrer tiefen Trauer. Die Königin war endlich aus ihrer Erstarrung erwacht, eilte Lisa hinterher, doch diese wehrte die Umarmung ihrer Mutter ab, schüttelte sie weg, wie eine lästige Fliege oder Mücke. Lisa schaute nicht mehr zurück. Sie schritt geradewegs aus dem Tor des Schlosses und entschwand unseren Blicken.

Ich bin Zeugin des Geschehens. Auch ich schaute nur zu. Auch ich schwieg, noch immer fassungslos. Der alte Mann, der Gärtner, der Rosenzüchter, hielt mir ein weisses Taschentuch hin. Ich verstand nicht. Er trocknete mir mit dem Taschentuch über meine tränennassen Wangen. Ich weine noch immer. Es ist Morgen. Ein neuer Morgen. Doch ich kann nicht aufhören zu weinen. Ich weinte mich in den Schlaf, ich weinte in meinen Träumen. Ich weinte beim Erwachen.

Berta, so bestürzt wie wir alle, hat uns einen Trunk gereicht, gestern. Er war bitter und süss zugleich. Roch nach Lavendel, Rosenblüten und Orangen, ein wenig nach Nelken und Muskatnuss, doch er hatte die Bitterkeit von Wermut.

Ich blicke aus dem Fenster in den Hof des Schlosses. Der Tisch steht noch dort, das Geschirr wurde nicht weggeräumt. Sogar angeschnittenen Kuchen stehen noch auf dem Tisch. Ein Katze leckt den Rahm aus der Schüssel.

Ach, liebe Kathrin, ach, wäre ich doch nie hier zurückgekehrt. Ich habe mir Wärme und Frieden erhofft. Eine erfreuliche Geschichte, lieben und anregenden Kontakt mit den mir hier so vertrauten Menschen. Wer hätte je gedacht, dass es so eine Wende nehmen würde.

- 5 - Aufbruch

Es ist Morgen. Ich habe Hunger. Es gelüstet mich nach heissen, dampfenden Kaffee, um meine Lebensgeister zu wecken. Aber mehr noch. Ich möchte mich vergewissern, ob die Königin, Anni und Kathi, Berta, Magdalena, Robin, der alten Mann und all die vielen Menschen hier im Schloss wohlauf sind. Was nicht die ganze Wahrheit ist, denn vor allem habe ich Sehnsucht, mich mit den mir lieb gewonnenen Menschen hier im Schloss auszutauschen. Deshalb betrete ich jetzt die Küche.

Sie ist gross, diese Schlossküche, auf der einen Seite wird gekocht. Kupferne Pfannen hängen an Haken an der Decke über den Feuerstellen und den Öfen. Denn ja, hier wird noch altmodisch mit Feuer gekocht. Auf der anderen Seite befindet sich eine auslandende Eckbank und ein grosser Tisch. Geradeaus sieht man durch eine breite, gläserne Tür, direkt in den Kräutergarten, der einst für Berta eingerichtet worden war. Die Königin und ihre beiden Töchter befinden sich bereits in der Küche. Die Küche ist seit jeher ein Zufluchtsort, ein sicherer Hort. Hier riecht es nach all dem Leckerem, dass einem zu trösten vermag. Heisser Schokolade mit Vanille, Zimt, Koriander, frische gebackenem Brot. Hier wird nicht nur gekocht und gegessen, nein hier wird vor allem viel gelacht, geplaudert, Pläne geschmiedet und ab und zu geweint und getröstet und Märchen erzählt.

Magdalen eilt hin und her und stellt allerlei auf den Tisch, an dem jetzt offensichtlich gefrühstückt wird. Brot und Croissants, Butter, Honig, Marmelade, Kaffee, Tee und eben, heisse Schokolade. Ja, in einer Schüssel befinden sich sogar rote, frische Erdbeeren. Berta brät derweil Eier mit Speck.

Berta, zum Küchenjungen: Hol das Geschirr draussen und dann komm und setz dich zu uns. Das Holz kannst du mir später hereinbringen. Und hoppla, da sind die Spiegeleier. Sagt's und stellt die breite Bratpfanne auf den Tisch.

Königin, mit rot geweinten Augen: Ich habe keinen Hunger. Ich bringe bestimmt keinen Bissen herunter.

Berta: Papperlapapp. Ihr müsst Euch jetzt stärken. Dann kommen auch neue Gedanken und Ideen. Zu Kathi und Anni und zu mir gewandt: Auch Ihr müsst jetzt alle ordentlich zulangen.

So sitzt die kleine Gesellschaft einträchtig beieinander und frühstückt schweigend.

Anni: Wo sie wohl ist?

Kathi: Wo sie wohl geschlafen hat?

Anni: Ob sie wohl überhaupt schlafen konnte?

Alter Mann: Ich bin ihr gestern gefolgt. Es war ja auch nicht schwer, die Perlen haben mir den Weg gewiesen. Lisa ist über die Felder und Wiesen über die Hügel geradewegs in Richtung des grossen, schwarzen Waldes gegangen. Dort hat sich allerdings die Spur verloren.

Anni, entgeistert: In den grossen, schwarzen Wald, sagst du? Warum ausgerechnet dorthin? Hat sie denn gar keine Angst?

Kathi, ebenfalls bange: Ich hätte Angst. Allein schon vor den Wölfen und Bären. Warum nur hat sie nicht bei einem Bauernhaus angeklopft?

Berta: Sie wollte bestimmt niemanden in Verlegenheit bringen, denke ich. Nicht, dass des Königs Zorn sich noch über eine unschuldige Familie ergiesst, die ihr Unterschlupf gewährten.

Anni, bewundernd: Sie ist so ... vorausschauend.

Kathi: Ach, Anni, das vermuten wir ja nur. Nachdenklich: Wo sie wohl geschlafen hat?

Alter Mann: Es gibt im grossen, schwarzen Wald viele Unterschlupfe. Denkt nur an die Hochsitze der Jäger.

Anni: Aber was isst sie, sie muss doch Hunger haben?

Berta: Ich habe ihr Verpflegung für mindestens eine Woche mitgegeben. Vielleicht findet sie inzwischen einen mitleidigen Menschen, der sie aufnimmt.

Königin: Ich wollte ihr auch folgen, gestern. Aber sie hat mich angeherrscht, ich solle zurückkehren. So kannte ich sie nicht. Ich fasse es noch heute nicht, warum sie so wütend über mich war, so abwehrend, so verletzend. Aber vielleicht wollte sie den Zorn ihres Vaters alleine tragen, keinen anderen ihr lieben Menschen ebenfalls ins Verderben stürzen. Ja, so muss es gewesen sein. Plötzlich wütend: Ich sollte ihn verlassen, diesen Unhold.

Anni und Kathi unisono: Wir wollen sein Reich nicht.

Alter Mann: Wir müssen jetzt alle verfügbaren Männer losschicken, um den grossen, schwarzen Wald zu durchsuchen. Allen voran die ortskundigen Jäger.

Königin: Und dann? Zurückkehren darf sie ja nicht, was soll dann geschehen. Schicken wir sid in die Fremde?

Berta, zuversichtlich: Wir werden eine Lösung finden. Der alten Mann hat Recht. Wir sollten nicht länger warten. Den schwarzen Wald zu durchkämmen ist eine gute Idee. Zu Königin gewandt: Gebt den Befehl, Lisa zu suchen. Dann wird alles gut.

Plötzlich kommt Bewegung in die Frühstücksgemeinschaft. Die Königin rafft ihre Röcke und hastet hinaus, den Jägermeister anzuweisen. Anni und Kathi eilen zum Stall, lassen ihre Pferde satteln.

Ich bleibe allein zurück. Ich kann nicht reiten, kann mich nicht hoch zu Ross bei der Suche zu beteiligen. Ich kenne mich auch in der Gegen nicht aus. So trage ich das Geschirr des gestrigen traurig endenden Geburtstagsfestes zwischen all den aufbrechendem Gesinde in die Küche und beginne es abzuwaschen. Denn auch der Küchenjunge ist auf und davon, er beteiligt sich an der Suche. Ein solches Abenteuer lässt er sich nicht entgehen.

Plötzlich ruft jemand: Der König! Der König kommt zurück!

Ja, ist er denn fortgewesen? hört man munkeln. Denn keiner hat ihn seit seinem Wutausbruch mehr gesehen.

Welch ein trauriger Anblick! Der König reitet mit schlaffen Zügeln auf dem Pferd Lisas in den Hof ein. Es ist nicht der zornige, wütende Mann von gestern. Er scheint um Jahre gealtert. Niedergeschlagen im wahrsten Sinne des Wortes. Müde und matt gleitet er vom Pferd. Tränen schimmern in seinen Augen.

König, flüsternd: Ich habe die ganze Nacht gesucht. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt.

Königin, ihn anherrschend: Was ist nur in dich gefahren, du Unmensch.

König, geknickt: Ich wollte mich doch nur ihrer Liebe vergewissern.

Königin, wütend: Und, hat sie dir nicht gehorcht, widerwillig ihre Liebe zu dir zu beschreiben versucht.? Aber du, du Vermaledeiter! Du herzloser, ichsüchtiger Despot! Du hast nur dich gesehen und auf deine Kränkung geachtet und dein eigen Kind, das dir liebste noch dazu, zum Teufel geschickt.

König, unter Tränen: Nicht zum Teufel, nur weg von mir. Mit einem Aufschluchzen: Ich habe alles zerstört! Ich bin nicht würdig, mich länger Vater zu nennen. Er blickt auf und sieht sich um: Was ist hier los? Was ist das für eine Gerenne und Gehetze?

Alter Mann: Wir machen uns bereit und gehen Lisa suchen. Wir werden den ganzen schwarzen Wald durchkämmen. Wir werden nicht ruhen, bis wir sie gefunden haben.

König, mit neuem Elan: Sattelt mir mein Pferd, dieses hier ist müde. Ich werde beim Suchen helfen.

Königin, energisch: Du musst dich erst stärken und ein wenig ruhen. Ich selbst werde mitreiten und beim Suchen helfen. Und auch deine beiden anderen Töchter reiten mit und suchen. Verächtlich, mehr zu sich selbst: Drei Töchter hat er, die ihn innig lieben. Und er musste ihre Liebe testen. Welch eine Torheit!

Berta, zum König: Eure Gemahlin hat Recht. Wenn Ihr die ganze Nacht auf den Beinen wart, dann müsst Ihr Euch zuerst stärken und auch ein wenig ruhen. Nicht dass Ihr noch vom Pferd fällt und die Suche so behindert.

- 6 - Begegnungen

Ach Kathrin. Da ist kein Bleiben mehr! Trauer, Wehklagen allenthalben. Sie haben Lisa einen ganzen Tag und eine ganze Nacht lang gesucht, jeden Quadratzentimeter im schwarzen Wald durchforstet, jeden Stein umgedreht. Sie haben Lisa nicht gefunden. Keine Spur von ihr, nicht den geringsten Hinweis, wohin sie geflüchtet sein könnte.

Die Königin hat sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und weigert sich, Nahrung zu sich nehmen. Ich bin an ihrer Türe vorbei gegangen, habe sie leise schluchzen gehört. Ich habe geklopft, sie beim Namen gerufen. Nichts.

Ich habe diese Trauer, all das Elend nicht länger ertragen und wollte eigentlich wieder zurück nach Hause, in Schnee, Regen und Kälte. Ich hätte den Leserinnen und Lesern die Nachricht hinterlassen, dass das Märchen an dieser Stelle wohl endet.

Darüber nachdenkend, bin ich ratlos und rastlos im Schlosshof hin und hergelaufen. So hat mich der alte Mann getroffen und mir vorgeschlagen, ich solle mit Anni und Kathi eine Kutschfahrt unternehmen. Wir müssten auf andere Gedanken kommen.

Weit weg soll ein zauberhafter See inmitten lieblicher Hügel liegen. Dorthin fahren wir nun. Der alte Mann sitzt auf dem Kutschbock, vier Rosse sind angespannt. Berta hat uns reichlich Proviant mitgegeben. Auch eine Flasche Wein. Die Sonne scheint und rötet unserer Backen.

Wir sind bereits seit über zwei Stunden unterwegs. So weit weg vom Schloss war ich noch nie. Normalerweise halte ich mich lediglich in unmittelbarerer Nähe des Schlosses auf, meist gar nur im Schlosspark unter dem blühenden Apfelbaum.

Wir kommen an kleinen Äckern und Wiesen vorbei, an kleinen Wäldchen und kleinen Fischweihern. Es geht stetig sachte hinauf und sachte wieder hinunter. Manchmal führt der Weg auf einer der Hügelkuppen. Die Aussicht ist dann fantastisch.

Es ist ein bezauberndes Land. Ein friedliches Land. Die Menschen, denen wir begegnen sind immer höflich und fröhlich, sagen uns respektvoll guten Tag. Die Männer lüpfen die Hüte.

Da vorn – das solltest du mit deinen eigenen Augen sehen – watschelt ein dürres altes Weiblein entlang des Weges. Sie stützt sich auf einen Stock und hat einen riesigen Sack auf dem Buckel. Wir halten an.

«Grüss Euch Gott, schönes Wetter heute», grüsst uns das Weiblein gut gelaunt

«Grüss Gott Euch auch. Wohin des Weges?», frage ich sie.

«Nach Hause zu meinem Gänsen. Ich habe den ganzen Morgen lang Gras geschnitten. Seht nur der Sack auf meinem Buckel, der ist platzvoll mit frisch geschnittenem Gras. Und einiges Obst habe ich von den Bäumen geholt. Das habe noch ich obenauf auf das Gras gelegt.»

«Wollt Ihr ein Stück mit uns fahren?», fragt Anni mitfühlend.

«Vielen Dank Ihr Lieben. Aber lasst nur, ein bisschen Bewegung tut meinen alten Knochen gut.»

«Wohnst du denn weit weg?», fragt da Kathi.

«Hm, so zwei Stunden habe ich schon noch zu laufen! Vielleicht auch drei. Seht Ihr den Wald dort? Dort, wo die Berge sich erheben? Ich habe meine bescheidene Hütte mitten in dieser Einöde.»

«Oh, da habt Ihr aber einen langen Heimweg vor Euch! Dürfen wir Euch nicht doch noch ein Stück mitnehmen? Ihr könnt dann Euern schweren Sack hier in der Kutsche ablegen und Euch ein bisschen ausruhen.»

«Das ist sehr freundlich von Euch. Aber lasst mich meine Last allein tragen. Ich sag immer wieder: Jeder hat seine eigene Bürde. Es mag Euch vielleicht etwas wunderlich vorkommen, aber ich trage meine Bürde gerne. Sie enthält ja nur Gras und Obst. Wenn ich an die Bürden denke, die manche Leute zu schleppen haben, da wird mir manchmal ganz sonderbar zumute. Und oh, wenn ich an die Bürde des Königs denke, dann wird mir noch wundersamer. Sehr wundersam. Nein, da lobe ich meine Last.»

Wir halten den Atem an. Dieses dürre alte Mütterchen weiss um die Geschehnisse im Schloss?

«Oh, ihr wundert Euch, dass ich vom König weiss? Das ganze Land weiss davon. Ich meine keine Menschen, ich meine all das Vieh, das heute Nacht aufgescheucht aus dem schwarzen Wald fliehen musste. Wölfe, Füchse, Dachse, Wildschweine, Rehe und Hirsche. War das eine Aufregung allenthalben! Die Vögeln plaudern seit Stunden unentwegt von der vergeblichen Suche nach dem verschwundenen Königskind.»

«Weiss den irgendein ... Vieh oder Vogel, wo sich Lisa befindet?», fragt Anni aufgeregt.

«Nein, nein, das wissen sie nicht. Sie reden nur von der Ungeheuerlichkeit, die Schwärze des schwarzen Waldes durch unzählige brennende Fackeln zu stören.»

«Ach, schade!», flüstert Kathi, mehr zu sich selbst.

«Sei nicht verzagt, Mädchen. Wenn die Zeit reif ist, dann wird Lisa gefunden werden.»

«Wer seid Ihr, Mütterchen?», wage ich zu fragen.

«Ich? Ich bin nur eine freundliche alte Närrin, höflich zu allen. Das bin ich.»

«Seid Ihr denn nicht ein bisschen einsam, wenn ihr so abgeschieden und allein mitten im Wald lebt, liebes Mütterchen», fragt Anni teilnahmsvoll.

«Oh, ich bin nicht allein. Da habe ich zuallererst meine Gänse, vierundvierzig Stück an der Zahl, und dann lebt auch meine Tochter bei mir. Die geht mit den Gänsen tagsüber spazieren und hilft mir im Haushalt. Sie hackt das Holz, damit wir den Ofen heizen können. Nein, allein bin ich weiss Gott nicht. Nun denn, einen schönen Tag wünsche ich Euch Herrschaften!», sagt sie fröhlich und wackelt eilig und fidel weiter.

Wir sind immer noch ein wenig sprachlos über die wundersamen Worte des Weibleins, da kommen uns just in diesem Moment ein Vater und sein Sohn entgegen. Ich höre gerade noch, wie der Vater zum Sohn sagt: «Nimm dich in Acht vor dieser alten Hexe. Geh ihr aus dem Weg, das rate ich dir.»

«Der See! Schaut nur, da vorne liegt der See!», jubelt Kathi, uns aus unseren Gedanken reissend, «Und schaut nur, inmitten des Sees liegt eine kleine Insel. Oh, so entzückend, so lieblich, so fantastisch!»

- 7 - Am See

Es ist früher Nachmittag. Wir haben lange im See gebadet. Das Wasser ist herrlich lau und erfrischend zugleich. Ich fühle mich erholt und entrückt. All dem Kummer entrückt. All den vielen Fragen um den König und seinem jähen Wutausbruch. Ich kann jetzt darüber nachdenken, es geht mir nicht mehr ganz so nahe. Vielleicht waren es auch die Worte des alten Mütterchens, die mir guttun. Ihre weise Zuversicht. Vielleicht geht es Lisa sogar gut?

Wir sind zur kleinen Insel hinübergeschwommen. Du kannst dir nicht vorstellen, was wir da erblickt haben, liebe Kathrin: Ein Wäldchen aus lauter Birnen- und Apfelbäumen. Alle in voller Blütenpracht und gleichzeitig voller reifen Früchte. Dazwischen wuchsen Beerensträucher. Ich erkannte Himbeeren, Preiselbeeren und Johannisbeeren. Auch diese trugen Beeren und Blüten zugleich.

«Erzähl uns eine Geschichte», bittet mich unvermittelt Kathi.

«Eine Geschichte?»

«Ja, du erzählst doch immer eine Geschichte, wenn du zu uns kommst!»

«Ein Märchen! Erzähl uns ein Märchen!», mischt sich nun Anni ein, «Alle Märchen haben ein gutes Ende, darum möchte ich, dass du ein schönes, friedliches Märchen erzählst!»

Ich muss lachen. «Ja, Kathrin hat sich auch so ein Märchen gewünscht.»

«Wer ist Kathrin?», fragen die beiden Mädchen erstaunt.

«Jemand, die sich auch ein schönes Märchen erhofft.»

Ich halte inne, überlege eine Weile.

«Nun, denn», beginne ich nachdenklich, « es war einmal ein Graf ...»

«War er ein schöner Mann?», unterbricht mich Kathi.

«Das ist nicht so wichtig!», kontere ich.

«Und ob!», ereifert sich nun Anni, «In den Märchen werden die Mädchen immer so schön und geheimnisvoll mit vielen Attributen geschildert. Beispielsweise: ' Sie, die Prinzessin, hatte schwarze Haare wie Elfenbein, eine weisse Haut wie Schnee, und rote Lippen, wie Blut.' Warum sollten die Prinzen und Grafen, die Jünglinge nicht ebenso prächtig beschrieben werden? He?»

«Das ist grauselig, diese blutroten Lippen des Schneewittchens. Blut! Nein! Sie müsste rote Lippen haben wie die Blütenblätter einer edlen, roten Rose», ereiferte sich Kathi.

«Ja, rote Lippen wie die Blütenblätter einer edlen, roten Rose», spinnt Anni den Faden entzückt weiter, «Haare, so golden, wie die Strahlen der Sonne ...»

«Und Wangen, so weiss und rosa wie die Blüten eines wilden Apfelbaums», beendet Kathi die Beschreibung.

Ich schlucke. Sie haben ihre Schwester Lisa beschrieben. Prägnanter hätte ich Lisa nicht schildern können.

«So beschreibt mir doch mal euren Grafen», ermuntere ich die beiden Schwestern und neige mich wartend zurück.

Grosses Schweigen.

«Wenn ich auch etwas beitragen darf», mischt sich da der alte Mann ein, der bequem an einem grossen Stein gelehnt, neben uns sitzt, «mein Graf hätte blonde, gelockte Haare, einen Schnurrbart und wäre von schlanker, ranker Gestalt.»

«Keinen Schnurrbart, bitte nicht, und nicht blond!» das war Anni.

«Nein, schwarz gelockt, mit dunklen, geheimnisvollen Augen!», das war Kathi.

«Oder schwarz gelockt, mit meerblauen, tiefgründigen Augen!», das war nochmals Anni.

«Wollt ihr nun ein Märchen hören, oder nicht?», das bin nun ich.

«Ja, erzähl bitte weiter!» Jetzt sind sich die Schwestern einig.

«Okay [Klammer auf: okay, das ist kein Wort, dass man im Märchenland gebraucht, Klammer zu], es war einmal der Sohn eines Grafen ...»

«Es ist nun plötzlich der Sohn, nicht mehr ein Graf?», fragt Anni konsterniert, worauf ihre Schwester antwortet: «Das spielt doch keine Rolle. Der Sohn eines Grafen ist wiederum ein Graf. Lässt du nun die Märchenerzählerin weitererzählen oder nicht?»

Ich erzähle weiter.

«Es war einmal der Sohn eines Grafen. Der war ein bisschen ungeschickt darin sich zu orientieren. Oder anders gesagt: Er war geschickt darin, sich zu verirren.

Einmal da träumte er von einer weissen Hirschkuh. Die leuchtete so hell und bezaubernd wie der Mond in der Nacht, was den jungen Grafen sehr beschäftigte. Er erkundigte sich, zuerst beim Jägermeister, dann bei Weisen und Gelehrten, ob es eine weisse Hirschkuh überhaupt gäbe. Er bekam verschiedene Antworten, was ihn sehr verwirrte. Nur ein altes Mütterchen, das Handlangerdienste in der Küche verrichtete, wusste um die leuchtende Hirschkuh, denn ihr Urgrossvater war dieser einmal in einem wilden Wald begnet. Da entschied sich der junge Graf, sich selbst auf die Suche nach dieser weissen Hirschkuh zu machen. Er sattelte sein Pferd und machte sich auf den Weg.»

«Hatte er denn genügend Proviant bei sich?», unterbricht mich Kathi.

«Du denkst immer ans Essen», neckt sie Anni.

Ich gehe nicht darauf ein und erzähle: «Der Sohn des Grafen ...»

«Hat er denn keinen Namen?», unterbricht mich erneut Kathi.

«Er hiess Sebastian, aber da tut nichts zur Sache. Auf jeden Fall kam der junge Graf zu einem wilden Wald. Er ritt hinein, aber der Wald war so wild, Brombeeren wuchsen über die Wege, an ein Weiterkommen hoch zu Ross war nicht zu denken. Er musste zu Fuss gehen. Schweren Herzens liess er sein Pferd zurück. Er kletterte über Baumstümpfe, durchwatete sumpfige Stellen, überquerte dichtes Buschwerk. Kurz und gut, er hatte sich schnell völlig verirrt. Es dämmerte, als er wie von Ferne einen weisslichen Schimmer vorbeihuschen sah. Sofort wart er entflammt. Das konnte nur die weisse Hirschkuh sein. So dachte er zumindest. Er setzte seinen Weg fort, versuchte die Richtung, in der er das helle Huschen gesehen hatte zu halten, stolperte da und dort über dicke Wurzeln, oder grosse Steine, oder verhedderte sich in Dornen und Gebüsch. Da beschloss er, die Nacht auf einem Baum im Wald zu verbringen, denn er hoffte, dass die Bären und Wölfe nicht klettern können. Als er es sich gerade so richtig bequem auf einem dicken Seitenast einer alten, ehrwürdigen Eiche bequem gemacht hatte, da sah er in der Ferne ein Leuchten wie von Sonnenstrahlen. Es muss die weisse Hirschkuh sein, dachte er, und kletterte behände wieder hinunter und schlug sich Richtung des Leuchtens durch das Unterholz. Es war nicht leicht, so im Halbdunkeln. Seine Füsse wurden plötzlich nass – war das ein Bach, oder Sumpf? – dann stieg der Weg leicht an. Weg? Nein, da war kein Weg, sondern Gebüsch, mal lichter, mal dichter. Da stolperte er erneut und fiel in ein dorniges Gestrüpp. So sehr er sich auch bemühte, das Gestrüpp hielt in fest, er konnte sich nicht befreien. So hing er nun und gewahrte plötzlich, dass er über einem Abgrund hing, das dornige Buschwerk hatte ihn gerade noch vor dem tödlichen Sturz bewahrt. Da erblickte er unter sich die zauberhaft zart leuchtende Hirschkuh, wie sie am Ufer eines kleinen Weihers vorsichtig witternd stand. Der Mond beleuchtete den Weiher, die Hirschkuh und den kleinen, lieblichen Wasserfall, der vom gegenüber liegenden Hügel hinunterplätscherte.»

Anni und Kathi hängen an meinen Lippen. Auch der alte Mann schaut mich neugierig an. Es ist mucksmäuschenstill. Oder doch nicht? Habe ich nicht eben etwas gehört? War da nicht ein Geräusch, ein Knacken und Knacksen, wie wenn jemand auf einen Ast tritt?

- 8 - Der geheimnisvolle Graf

Da tritt ein junger Mann aus dem Wald. Schlank und rank ist er. Das dunkle, gelockte Haar ist etwas zerzaust, als ob er sich durch Gebüsch und Gestrüpp gekämpft hätte, die Wangen haben Kratzer, auch die Hände. Aber seine Augen! Tiefgründige dunkelblaue Augen, so nachtblau wie der Himmel lange nach der Dämmerung.

Ich höre, wie Anni und Kathi vor Schreck oder Überraschung heftig einatmen.

«Guten Tag, mein Herr!», begrüsst der alte Mann den jungen.

«Oh, guten Tag!», grüsst dieser, «Und guten Tag die Damen!»

«Habt Ihr Euch vielleicht verirrt?», fragt zögernd Anni.

«Oh? Sieht man mir das an? In der Tat. Ich habe mich verirrt. Mein armes Ross!»

«Was ist mit Eurem Ross, wenn Ihr Euch verirrt habt?»

«Ich liess es am Waldesrand zurück, gestern, und ich bin mir nicht sicher, ob ich es an einen Baum gebunden habe oder nicht.»

Der junge Mann redet etwas wirr, finde ich.

«Es ist wegen der Bären und Wölfe. Nicht dass diese meinem Ross noch – oh nein, ich mag gar nicht daran denken», fügt er erklärend hinzu.

«Ob ihr es angebunden habt oder nicht?», fragt jetzt Kathi.

«Exakt. Es findet nämlich den Heimweg von alleine. Aber wenn es angebunden ist, dann ist es angebunden und kann nicht zurückkehren. Dann bleibt es an Ort und Stelle und eben, die Wölfe und Bären könnten es ... Wie gesagt. Ich möchte gar nicht dran denken.»

«Sagt, seid Ihr ein Graf?», wagt Anni zu fragen.

«In der Tat, ich bin ein Graf», antwortet der Graf und sieht an sich herunter, «Obwohl ich jetzt wie ein Bursche auf Wanderschaft ausschaue. Wie kommt Ihr darauf?»

«Oh, nur so ein Gedanke!», erwidert Anni und sieht mich fragend an.

«Ihr heisst aber nicht etwa Sebastian?», das war jetzt Kathi.

Der Graf schaut sie erstaunt an: «In der Tat, das ist mein Name. Ich heisse Sebastian. Sebastian. Sebastian, Simon, Johann, Jonas, Leonhard, William, Vincent Von Lilienberg. Und Ihr, wie heisst Ihr denn?»

«Das da ist meine Schwester Kathi, ich bin Anni und diese dort ist die Märchenerzählerin und der alte Mann hier ist der alte Mann. Heute ist er unser Kutscher. Die Pferde übrigens, weiden da drüben, wo auch die Kutsche steht und ein Weg durch den Wald führt.»

«Oh, es gibt einen Weg durch den Wald?»

«Ja freilich, sonst wären wir ja nicht hier mit Kutsche und Proviant und allem Drum und Dran für ein ausgedehntes Picknick», antwortet nun Anni belustigt.

«Ein Weg... Ein Weg! Dann könnte ich auf diesem Weg vielleicht zurück zu meiner Burg finden.»

«Habt Ihr vielleicht Hunger und Durst?», frage nun ich einladend.

«Oh, ja. Das hab ich wohl. Ich bin den ganzen Tag und die ganze Nacht durch den Wald geirrt.»

«Habt Ihr etwa die weisse Hirschkuh gesucht?», wagt Anni zu fragen.

Der Graf sieht sie entgeistert an: «Woher könnt Ihr nur davon wissen?»

«Oh, nur so ein Gedanke», erwidert Anni und fixiert mich fragend.

«Ihr habt absonderliche Gedanken, die jedoch nicht trügen.»

«Habt Ihr die weisse Hirschkuh nachts am Weiher gesehen?»

Jetzt scheint der Graf seine Fassung vollends zu verlieren. Schnell bitte ich ihn, sich zu uns zu setzen, schenke ihm ein Glas Rotwein ein, reiche ihm eines der belegten Brote und ein Kuchenstück. Er isst bedachtsam, wie es sich für einen Grafen geziemt, obwohl er sehr, sehr hungrig ausschaut.

Plötzlich erhebt er seinen Blick, sieht über den See zur Insel hinüber.

«Oh, da ist ja eine kleine Insel. So wundrsam, lieblich. Sie erinnert mich an eine Insel ... Sagt, wachsen dort etwa Birnen- und Apfelbäume, die das ganze Jahr Früchte und Blüten tragen?»

Jetzt staunen wir.

«Ihr kennt die Insel?», fragt nun Anni.

«Oh, ja. Ich war einst mit meinem Vater selig unterwegs. Es wurde Nacht und wir haben hier, an diesem Ufer ...», mit einem Aufschrei, «Oh mein Gott! Niemals, ja niemals hätte ich je gedacht, dass ich noch einmal an diesem Ufer stehen würde!» Jetzt schweigt er andächtig.

«Nun erzählt schon!», fordert Kathi ihn heraus.

«Es war Abend. Wir beschlossen, hier zu übernachten. Als wir uns eben auf den Decken, die mein Vater immer in der Satteltasche mit sich führte, niederlegen wollten, da erschien eine Erscheinung, eine Gestalt. Eine junges Mädchen, so schien es. Sie war begleitet von einem lichten Wesen. Dieses Wesen führte das Mädchen über das Wasser zur Insel, als ob das Wasser ein Weg wäre. Uns verschlug es die Sprache. Die kleine Insel begann nun leicht zu schimmern und leuchten. Erst jetzt bemerkten wir, dass das Mädchen keine Hände hatte und die Birnen und Äpfel mit dem Mund gleich von den Bäumen wegass. Später geleitete die lichte Gestalt das Mädchen wieder über das Wasser schreitend zum Ufer zurück und in den Wald. Wir schliefen lange nicht, so ergriffen waren wir. Es musste ein Engel gewesen sein, der das Mädchen begleitet hatte.»

Wir schwiegen, ergriffen.

«Das Mädchen ohne Hände», flüstere ich aufgewühlt.

«Ihr wisst um dieses Mädchen?», fragt der Graf betroffen.

«Es ist eine alte Sage, ein Märchen, in dem Land, von welchem ich herstamme.»

«Wie geht die Sage aus? Lebt sie noch?»

«Der König, der Besitzer dieses Insel – wenn es denn dieselbe ist - hat sich in das schöne Mädchen verliebt und geheiratet. Er schenkte ihr silberne Hände. Es ist eine lange, sehr lange Geschichte.»

«Wie ging sie aus? Erzählt bitte!»

«Ein anderes Mal. Seht, es dämmert bereits, wir müssen uns auf den Weg machen! Oder wollt ihr vielleicht ein Stück mit uns fahren, dann könnte ich Euch die Geschichte zu Ende erzählen.»

- 9 - Das Mädchen ohne Hände

Siehst du nun Kathrin, wie recht ich hatte? Dieses Land hier ist manchmal wie verhext. Da will ich ein Märchen eben gerade nicht erzählen, aber dieses zauberhafte und verwunschene und doch so liebliche Märchenland arrangiert die Dinge, wie es will.

Und ach, hätte ich doch geschwiegen! Denn der Ausflug, der uns ein wenig ablenken sollte, der uns auf andere Gedanken hätte bringen sollen, hat als Desaster geendet. Die Zwillinge, Anni und Kathi sind wieder untröstlich, weinen um ihre Schwester Lisa und sind ratlos, wie sie ihrem Vater begegnen sollen. Vielleicht sind sie sogar ein wenig wütend, was wiederum nicht schlecht wäre.

Wie es dazu gekommen ist? Durch das Märchen, das vermaledeite, das verwunschene, verteufelte, im wahrsten Sinne des Wortes.

Wir sassen in der Kutsche die gemütlich durch die Lande fuhr, Hufgetrappel, irgendwo gackerten Hühner und ein Gockel krähte. Weit oben in den Lüften drehten Bergadler und Milane ihre Runden.

Der junge Graf sass mir gegenüber und freute sich des Lebens und schaute gut gelaunt und erwartungsvoll zu mir.

«Na gut», lenkte ich ergeben ein, «dann muss ich wohl die alte Sage des Mädchens ohne Hände erzählen.»

Und ich erzählte, wie einst ein Müller verarmte, dass ihm nichts mehr blieb als seine Mühle und den Apfelbaum hinter der Mühle.

«Da begegnete ihm einst ein alter Mann im Wald, der ihm versprach, ihn reich zu machen, wenn er nur, was hinter der Mühle steht, erhalte. Das muss der Apfelbaum sein, dachte der Müller, auf den können wir verzichten, wenn wir nur endlich wieder Geld und Gut haben. Er ging also auf den Handel ein. Als er nach Hause kam, da fragte ihn seine Frau ganz verwundert, woher all das Geld und Gold und die kostbaren Sachen in den Schränken und Kommoden seien. Der Müller erzählte von seinem Handel. Oh mein Gott, rief da die Müllerin aus. Du bist hereingelegt worden, hinter dem Haus hat den ganzen Morgen unsere Tochter den Hof gekehrt. Du hast unser Mädchen verkauft. Das muss der Teufel gewesen sein, der unser Kind holen wird. Da waren alles sehr bestürzt, aber der Teufel er käme erst in drei Jahren, um das gekaufte abzuholen. So hatten sie noch etwas Zeit. Vor allem das Mädchen betete viel und war sich gewiss, dass es einen Ausweg gäbe. Als die drei Jahre vorbei waren, da wusch sich das Mädchen, stellte sich in den Hof und machte einen Kreidekreis um sich herum. Und tatsächlich: Der Teufel kam, und fluchte und sagte dem Müller, er müsse alles Wasser wegtun, damit sich das Mädchen nicht mehr waschen könne. Der Müller fürchtete sich und tat wie ihm geheissen. Aber das Mädchen weinte auf seine Hände und als der Teufel kam, konnte er ihm nichts anhaben. Jetzt wurde der Teufel noch viel zorniger und befahl dem Müller, dem Mädchen die Hände abzuhauen, sonst könne er das Mädchen nicht mit sich nehmen. Der Vater war entsetzt und sagte dem Teufel, dass er das niemals tun würde. Wenn du dem Mädchen die Hände nicht abhaust, bis ich wieder zurückkomme, dann nehme ich dich selbe mit mir. Dem Müller war angst und bange und in seiner Not versprach er dem Teufel, zu tun, wie der ihm geheissen hatte. Der Müller war verzweifelt. Er ging zu seinem Kind und sagte: Verzeihe mir, wenn ich dir Böses antun muss. Ich habe es in der Not dem Teufel versprochen. Das Mädchen aber sagte: Mach mit mir, was Ihr wollt, ich bin Euer Kind. Und es legte seine Hände hin und liess sie sich abhauen. Aber sie weinte auf die Stümpfe, so dass sie ganz rein wurden und als der Teufel kam, konnte er sich ihr nicht nähern und musste fluchend unverrichteter Dinge abziehen. Der auch der Teufel hat nur dreimal eine Chance. Das Mädchen aber wollte nicht mehr länger zu Hause bleiben.»

Ein heftiges Schluchzen riss mich aus meiner Erzählung. Es waren Anni und Kathi, die zum Erbarmen weinten. Auch der Graf schluckte schwer.

«Warum hat er das getan?», jammerte Anni, «Wenn das meine Tochter wäre, ich hätte eher mir selbst die Hände abschlagen lassen als meinem eigenen Kind. Wie konnte er nur?»

«Warum zeigte er kein Erbarmen? Als hätte nur er Angst vor dem Teufel. Seine Tochter hatte ja bereits drei Jahre lange Jahre lang gewusst, dass sie der Teufel holen würde. Er ist so ... erbarmungslos», Kathi schluchzte lau auf, «Er hat nur an sich selbst gedacht wie, wie auch unser Vater nur an sich selbst dachte, als er Lisa verbannte.»

Ich war betroffen über diese frappante Ähnlichkeit der beiden Geschichten. Beide Väter hatten Töchter. Beide Töchter hatten ihre Väter bedingungslos geliebt, ohne Wenn und Aber. Die Müllerstocher war bereit, ihre eigenen Hände für ihren Vater zu opfern, Lisa liess sich anstandslos von ihrem Vater vertreiben, weil sie nicht ganz genau das gesagt hatte, was sich der Vater von ihr erwünschte oder erwartete. Die Untaten der Väter sind unvorstellbar, unerklärlich und abscheulich. Auch die beiden Töchter haben ähnliche Schicksale. Irgendwie sind beiden die Hände abgehackt worden, irgendwie wurden beide von ihren Vätern handlungsunfähig gemacht.

Die Kutsche rollte derweil weiter, der Graf schwieg, Anni und Kathi sassen stumm mit rotgeweinten Augen und hielten sich an den Händen. Da hörten wir von weitem ein lautes, freudiges Wiehern.

Der Graf sprang auf und schrie laut: «Mein Pferd, mein treues Ross!» Dann zu mir gewandt: «Ich würde gerne noch mehr über das Mädchen ohne Hände hören, doch ich muss jetzt aussteigen und nach Hause reiten. Aber sagt doch noch geschwind: Wie ging die Sage aus?»

«Es gab noch viele Verstrickungen und Nachstellungen durch den Teufel. Doch der Engel Gottes hat das Mädchen getreu begleitet und bewacht und ihre Hände hat der liebe Gott nachwachsen lassen.»

«Ah, Gott sei Dank!», erwiderte der Graf sichtlich erleichtert und lächelnd.

Inzwischen hatte der alte Mann mit einem lauten «Brrrrr!» die Pferde angehalten. Der Graf bedankte sich höflich und verabschiedete sich mit einer ergebenen Verbeugung und wünschte Anni und Kathi alles Gute und dass sie ihre Schwester doch bald wiedersehen mögen. Dann stieg er auf sein treues Pferd und galoppierte davon.

Liebe Kathrin, ich komme aus dem Grübeln nicht mehr heraus. An Lisas Geburtstag waren wir alle so schockiert, dass an ein Nachdenken nicht zu denken war. Danach hegten wir die Hoffnung, dass Lisa gefunden würde. Aber jetzt denke ich: Wie konnte er nur? Wie konnte der König nur so zornig reagieren? Wie konnte er nur so verblendet sein! Wie konnte er nur Lisa verdammen! In die Fremde schicken, sie Hunger und Not aussetzen? Gar ihren Tod riskieren? Was mich am meisten beschäftigt: Kann ich dem König diese Untat je verzeihen? Muss ich nicht immer daran denken, zu was er fähig ist, wie er so verletzend sein konnte? Werde ich ihm jemals wieder trauen und vertrauen können? Und wenn bereits ich solche Gedanken hege, wie gehen erst die Königin, Anni und Kathi und das Gesinde, das den Ausbruch ja ebenfalls miterlebten, damit um?

- 10 - Das bucklige Mütterchen

Ich habe unruhig geschlafen. Und viel Wirres und Absurdes geträumt. Einmal da sass ich draussen gemütlich beim Essen. Vielleicht war es Nachmittag. Ich hörte eine Amsel jubilieren. Da kam der König und setzte sich mir gegenüber hin. Mein Herz begann stark zu pochen. Ich konnte kaum noch atmen. Ich bekam schreckliche Angst. Der König lächelte mich freundlich an und machte seinen Mund auf - da erwachte ich ruckartig, mein Herz hämmerte in meiner Brust, als hätte ich etwas Schreckliches erlebt. In diesem Moment in der Dunkelheit wurde mir klar, dass ich mich nicht mehr neben den König setzen könnte. Dass mir eine Erklärung seines Verhaltens fehlt. Aber dass das mein Problem ist, nicht seins. Jetzt, bei Tageslicht betrachtet, kann ich dieser nächtlicher Logik nicht mehr folgen.

Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr, denn ich, die Märchenerzählerin, und endlich wieder in der Rolle als Märchenerzählerin, sitze wieder unter dem blühenden Apfelbaum. Es ist herrliches, sonniges Frühlingswetter. Tausend Düfte in der Luft. Es ist so wunderschön hier. Ich muss an ein altes Gedicht denken. «Die linden Lüfte sind erwacht», flüstere ich leise, «sie säuseln und weben Tag und Nacht, sie schaffen an allen Enden. Oh, frischer Duft, oh, neuer Klang! Nun, armes Herze, sei nicht bang! Nun muss sich alles, alles wenden.»

Die Königin neben mir, die offenbar mein Flüstern gehört hat, raunt mir zu: «Oh, wie nötig wir eine Wende brauchen könnten.»

Der ganze Hofstatt ist um mich versammelt. Nur der König und Lisa fehlen. Alle schauen mich erwartungsvoll an.

Da geschieht der Zauber. Wir befinden und auf einmal mitten im lieblichen Land. Mitten zwischen atemberaubend farbig blühenden Wiesen, die mich an Bilder von Monet erinnern, goldblonden Weizenfeldern, in denen Mohn und Kornblumen, rot und blau leuchten, und kleinen frühlingsgrünen Wäldchen. Es ist Frühling und Sommer zur gleichen Zeit. Ja, die linden Lüfte sind erwacht, die da säuseln und wehen.

Da ist ein Weg, wo ein hübscher, junger, edel gekleideter Mann fröhlich beschwingt dahinreitet, offensichtlich lustvoll den Tag geniessend. Jedenfalls pfeift er munter vor sich hin.

Kathi ruft plötzlich jubelnd dazwischen: «Das muss der Graf sein!»

«Bst, Kathi», zischt es von allen Seiten.

Ich räuspere mich und erzähle weiter.

Da bleibt der jung Bursche plötzlich stehen. Er hat am Wegesrand eine alte Frau entdeckt, die eben die letzten Grasbüschel, die sie mit der Sichel geschnitten hat, in einen Sack stopft. Sie hebt mühsam den Kopf, denn sie hat einen eindrucksvollen Buckel, der sie zu behindern scheint.

Jetzt ruft Anni laut: «Das muss das alte Mütterchen sein, dem wir begegnet sind. Jedoch scheint sie viel zerbrechlicher als ehedem, auch einen solch mächtigen Buckel hatte sie gestern noch nicht. Doch wie ist das möglich?»

Die Königin flüstert leise: «Im Märchen sind alle Dinge möglich! Aber still jetzt, wir wollen die Märchenerzählerin nicht unentwegt unterbrechen.»

Ich räuspere mich erneut und erzähle weiter.

Alte Frau: Grüss Gott der Herr. Schönes Wetter heute!

Graf, fröhlich: Grüss Gott Euch Mütterchen. Da habt Ihr ja eine schwere Last zu tragen! Der grosse Beutel da prall gefüllt mit frischem Gras und obendrein die beiden Körbe, voller Äpfel und Birnen. Sagt, ihr buckelt doch nicht etwa diesen schweren Sack? Habt Ihr denn keinen Karren?

Alte Frau: Doch, doch, auf meinem Buckel trage ich das Gras, die Körbe trage ich mit beiden Händen oder lege sie mir über die Arme.

Graf, mitfühlend: Aber Mütterchen, das ist doch ganz unmöglich. Das ist viel zu viel Last für Euch. Wie schafft Ihr das nur?

Alte Frau: Zu Fuss und auf meinem Buckel, trag ich meine Last, wie ich's eben schon gesagt habe. Reiche Leute wie Ihr müsst das nicht, Ihr habt Bedienstete und Kutschen oder Pferde. Arme Leute hingegen haben keine Wahl. Drum heisst das Sprichwort bei den Bauern: Schau dich nicht um, dein Buckel ist krumm.

Graf, mitleidig: Zwar ist mein Vater kein Bauer, sondern ein reicher Graf, aber damit Ihr seht, dass nicht nur die Bauern Lasten tragen können, so will ich euch helfen. So lasst mich Euren schweren Beutel tragen und ihr nehmt die Körbe.

Alte Frau, den Grafen von oben bis unten musternd: Ich danke Euch Herr Graf. Ihr seid ja noch jung und kräftig, habt einen geraden Rücken und starke Beine. Es wird Euch ein Leichtes sein, meine Last zu tragen. Es ist eh nicht weit bis zu mir nach Hause. Seht dort hinter dem Berge, da steht mein Häuschen auf einer Heide.

Der Graf nimmt das Pferd bei der Leine und bindet es an einen Apfelbaum, der am Wegrand steht.

Graf, das Pferd tätschelnd und zwischen den Ohren kraulend: So, mein treues Pferdchen, jetzt bleibst du schön brav hier, bis wir wieder zurück sind. Plötzlich hält er inne. Ich bin ein Tollpatsch, ein blöder. Ich binde dich nicht an, mein Pferdchen. Nicht dass die Bären und Wölfe aus dem Wald kommend dir ein Leid antun, nicht dass du nicht fliehen könntest.

Alte Frau: Weshalb legt Ihr die Last nicht einfach auf den Rücken Eures Rosses?

Graf: Ich möchte Euch beweisen, dass ich als Sohn eines Grafen zu etwas nütze und nicht verweichlicht bin.

Er nimmt den schweren Sack und schultert ihn.

Graf, zögernd, offenbar das Gewicht auf den Schultern spürend: Wie lange sagt ihr, dauert es, bis wir bei Eurem Häuschen sind?

Alte Frau: Eine Stunde wird's schon dauern.

Graf, etwas erschrocken: Eine ganze Stunde lang?

Alte Frau: Ja freilich, eine ganze Stunde lang, vielleicht auch ein wenig länger. Das hängt ganz davon ab, wie schnell ihr ausschreitet.

Der Graf, marschiert bereits eine ganze Weile, etwas schief, denn der Beutel drückt ihn auf der rechten Schulter ein wenig herunter.

Alte Frau, nachdenklich: Ihr läuft ein bisschen schief, will mir scheinen. Ha, ich hab's: Ich hänge Euch die Körbe mit den Äpfel und Birnen an die Arme, das wird Euch ausgleichen. Tut's wie angekündigt. Seht Ihr, die Last ist doch ganz leicht. Kinderleicht sogar. Und jetzt steht ihr gerade, wenn auch etwas vornübergebeugt. So hoppla! Vorwärts mein Lieber.

Graf, ächzend und mit schmerzverzogenem Gesicht: Nein, sie ist ganz und gar nicht leicht. Es ist, als würde die Last mit jedem Schritt schwerer. Mir ist, als wären lauter Wackersteine im Beutel mit dem Gras, und die Äpfel und Birnen haben ein Gewicht, als wären sie aus Blei. Ich kann kaum noch atmen.

Graf, Mitleid heischend: Können wir nicht einen Augenblick lang ruhen? Kann ich nicht kurz meine Last ablegen und danach wacker weiterschreiten?

Alte Frau, spöttisch: Ach, der Herr will nicht tragen, was ich alte Frau schon oft fortgeschleppt habe? Mit schönen Worten sind sie bei der Hand, aber wenn's ernst wird, so wollen sie sich aus dem Staub machen. Steht nicht still. Vorwärts sage ich! Die Last nimmt Euch niemand ab! Also los, mein junger Graf.

Ein Raunen geht durch meine Zuhörerschaft. Der König kommt schleppenden Schrittes auf uns zu. Er ist grau im Gesicht, beinahe weiss, geht gebückt, als würde nicht nur der Graf des Märchens, sondern auch er eine schwere Last tragen, die ihn zu Boden drückt. Er scheint um Jahre gealtert. Mir verschlägt es die Sprache. Ich kann nicht mehr weitererzählen. Alle sind still, harren, was da kommen wird. Die Königin hat den Blick gesenkt, Anni und Kathi halten sich an den Händen. Niemand sagt etwas, niemand begrüsst den König, niemand geht auf ihn zu.

Da steht die gute Berta geistesgegenwärtig auf und heisst den König Platz nehmen. Nicht ohne uns einen warnenden Blick zuzuwerfen.

«Es ist Vesperzeit», sagt sie, «Los, ihr Küchenmannschaft, wir wollen die guten Speisen, die wir zubereitet haben, nicht verderben lassen.»

Ja, und ob all der Köstlichkeiten, die uns an diesem wundervollen Frühlingstag aufgetischt werden, hebt sich auch die Stimmung merklich. Und wenn da Lisas Platz nicht leer stehen würde, könnte man beinahe meinen, es sei nichts geschehen.

- 11 - Hier wohnt jeder frei

Liebe Kathrin. Da waren wir gestern also wiederum um den grossen Holztisch versammelt, an diesem prachtvollen Frühlingstag. Die Rosen, die zwischen Hopfen und Geissblatt an den Schlossmauern heraufranken, haben vielleicht noch stärker geduftet als sonst, die Blumen in den Rabatten noch kräftiger geleuchtet, die Vögel noch lauter gezwitschert und jubiliert. Selbst der Himmel war vielleicht noch blauer, die Wolken schwebten noch lieblicher dahin.

Wir sassen nach wie vor auf den Stühlen und Bänken unter dem blühenden Apfelbaum, vor uns köstliche Gerichte in Schüsseln und auf Platten. Wir langten zu und haben es uns schmecken lassen. Vielleicht haben wir die Speisen länger gekaut als üblich, kleinere Schlucke getrunken als üblich. Um unsere Verlegenheit zu überspielen, die Zeit auszudehnen, wo wir miteinander plaudern und eben ... den König nicht länger ignorieren konnten.

Es war die Königin, die ihn als erste ansprach. «Sag. du isst kaum. Bist du krank?»

«Nein, ich bin nicht krank, nur erschöpft und müde. Ich habe unsere Tochter weiterhin gesucht. Den ganzen Tag und auch die ganze letzte Nacht.»

«Bist du von Sinnen?», rief die Königin aufgebracht, «Du bringst dich noch um! Der ganze Wald und die ganze Umgebung wurden bereits abgesucht. Jeder Stein umgedreht. Deine Sucherei führt zu nichts!»

«Das dachte ich auch», erwiderte der König müde, «ich habe jedoch einen jungen Grafen getroffen, der mir erzählte, er würde manchmal auf den Bäumen übernachten und dort gar schlafen. Gerade die Nacht zuvor hätte er eine weisse Hirschkuh gesucht, von der er geträumt habe, und sich dabei heillos im Wald verirrt. Weshalb er es sich auf einer alten, ehrwürdigen Eiche bequem gemacht hätte, um nachts nicht von Wölfen oder Bären angegriffen zu werden. Just in dem Augenblick, als er das letzte Mal hoch in der Krone der Eiche um sich schaute, gewahrte er ein goldenes Licht, das leuchtete, so golden wie die Sonnenstrahlen. Der Graf vermutete, die Hirschkuh gefunden zu haben. Aber als ich der Beschreibung des goldenen Lichts lauschte, dachte ich sofort an die goldenen Haare unsere Tochter. Ich habe den Grafen ausgefragt, er solle mir den Platz angeben, wo er übernachten wollte und die Richtung des Lichts. Doch der junge Graf hat mich ausgelacht. Ich würde den Falschen fragen, hat er erklärt, er sei sehr unbeholfen, was die Orientierung beträfe, er würde sich immer wieder aufs Neue verirren. Er könne sich einfach keinen Weg merken. Deshalb hätte er nicht die geringste Idee, in welcher Richtung er das golden strahlende Licht gesehen hätte. Gegenwärtig habe er sich wiederum blamabel verirrt und irre im Wald herum. Er sei auf der Suche nach seinem Ross, das er am Waldrand zurückgelassen habe, weil das Dickicht so dicht gewesen sei, und nur zu Fuss an ein Weiterkommen zu denken war.»

Der König atmete tief ein. «Deshalb werde ich Lisa weiterhin suchen, auch auf die Bäume klettern.»

Noch ein tiefer, königlicher Atemzug. «Es tut mir leid. Unendlich leid. Das möchte ich nicht nur dir, meine liebe Gattin, nicht nur euch, Anni und Kathi sagen, ich möchte unserer Lisa selbst entgegentreten und sie um Verzeihung bitten. Ich bereue zutiefst. Deshalb werde ich nicht aufgeben, Lisa zu suchen. Niemals.»

Wir alle hatten atemlos zugehört.

Anni stiess unvermittelt einen kleinen Schrei aus. «Das ist der Graf. Das muss unser Graf gewesen sein.»

Worauf sie nur Kopfschütteln erntete.

«Versteht ihr denn nicht? Die Märchenerzählerin hat uns gestern am See ein Märchen erzählt, oder zumindest den Anfang des Märchens, über genau diesen Grafen, und der ist dann zu uns ans Ufer gestossen.»

Noch mehr Kopfschütteln.

«Der Graf war eine Märchenfigur und war aber quietschlebendig! Könnt ihr das denn nicht verstehen?», Kathi schien zu verzweifeln.

Da mischte sich der alte Mann beschwichtigend ein: «Wir wohnen in einem Märchenland. Da kann es halt passieren, dass eine Märchenerzählerin ein Märchen erzählt, worauf die Geschichte dann real wird. Die erzählten Personen stehen dann plötzlich leibhaftig vor einem.»

Kopfnicken allenthalben.

Zögernd wendete sich Anni ihrem Vater zu: «Vater», fragte sie, «habt Ihr keine Alte mit einem Buckel getroffen?»

Worauf alle wieder den Köpf schüttelten.

Siehst du, liebe Kathrin, wie verworren es hier zugeht? Ich erzähle ein Märchen – am Ufer des, lieblichen Sees in dessen Mitte sich eine wunderliche Insel befindet – und flugs steht die Hauptfigur, der Graf, leibhaftig vor uns, wie der alte Mann treffend gesagt hatte. Der Graf erkennt die Insel und erzählt von der seltsamen Erscheinung, die er vor langer Zeit als Kind an demselben Ufer gesehen hatte. Ich wiederum erkläre ihm, dass es eine Sage gäbe – die ich dir zuliebe gar nicht erzählen wollte – die von ebendieser Insel und dieser Erscheinung handle, einem Mädchen ohne Hände, die von einem Engel begleitet, trockenen Fusses die Insel erreichte und dort Birnen und Äpfel vom Baum wegass. Und just dieser Graf begegnet dem König hier und erzählt im dieselbe Geschichte, die ich doch Anni und Kathi zuliebe erfunden habe. Siehst du, liebe Kathrin, wie sehr verworren und drunter und drüber es hier in diesem sonst so lieblichen und überaus liebenswürdigen Lande zugeht?

Doch zurück zu gestern.

Der König schüttelte den Kopf: «Einer Buckligen bin ich nicht begegnet. Doch fand ich ein Häuschen, ein winzig kleines Häuschen. Am Häuschen war ein Schild befestigt, darauf stand: 'Hier wohnt jeder frei'. Ich klopfte und eine junge Frau öffnete die Türe. 'Kommt nur herein', sagte sie zu mir, hier ist jeder willkommen'. Da sah ich einen kleinen, bereits gedeckten Tisch, worauf ein Glas Wasser und ein Teller mit einem Brotlaib bereitstanden. 'Ihr müsst hungrig und durstig sein', sagte die junge Frau. Da bemerkte ich etwas Seltsames: Die Fingerspitzen der jungen Frau waren aus purem Silber. Sie sah meinen fragenden Blick und sprach: 'Einst hatte ich silberne Hände. Doch der gütige Gott lässt mir meine natürlichen Hände wieder nachwachsen'.»

«Das ist das Mädchen ohne Hände», hauchten ergriffen Anni und Kathi unisono.

Der alte Mann beugte sich zu mir herüber, denn er sass gleich neben mir, zwinkerte mir liebevoll zu, legte seine Hand über meine und flüsterte: «Eine sehr verschlungene Geschichte, die Ihr uns dieses Jahr erzählt, meine Liebe. Ich bewundere Eure Fantasie. Wahrlich, ich staune über Eure Erfindungsgabe.», sagte es und schenkte mir noch ein Glas des goldgelben Weissweins ein.

- 12 - Der grüne Smaragd

Die Königin hatte ihren erschöpften Mann mit viel Zureden endlich ins Schloss geführt, damit er sich niederlege und erhole und dann erst würde man besprechen, wie die Suche nach Lisa weitergehen könne. Die Küchenmannschaft hatte das Geschirr weggeräumt, als Anni und Kathi mich erwartungsvoll anschauten.

Könnt Ihr uns nicht das Märchen weitererzählen?

Ich musste einen Moment überlegen. «Wo hat die Geschichte aufgehört?», fragte ich deshalb.

«Der Graf hat das alte Mütterchen getroffen, dasselbe, dem wir auch begegneten auf der Kutschfahrt zum kleinen See.

«Nun, denn!», ich räusperte mich. Das Märchen nahm erneut Fahrt auf.

Wir befinden uns wieder auf dem steinigen Weg, der mitten durch den wilden Wald zum Häuschen der alten Frau führt. Erinnert ihr euch noch? Der arme junge Graf hat der alten Frau angeboten, ihren mit frisch geschnittenem Gras gefüllten Sack zu ihr nach Hause zu tragen. Kurz danach hat sie ihm auch die beiden Körbe mit den Äpfeln und Birnen über die Arme gelegt. Er scheint unter der schweren Last beinahe zusammenzubrechen, derweil die alte Frau hinter ihm herläuft, als würde sie einen Esel vor sich hertreiben. Was gar nicht mal ein schlechter Vergleich ist, kann man doch einen Esel schwer beladen und obendrein noch selbst auf ihm reiten.

Plötzlich führt der Weg bergauf, wird steiler und steiler. Der junge Graf kämpft mit dem Vorankommen, denn immer wieder kullern die Steine unter seinen Füssen hinab als wären sie lebendig und der arme Graf gleitet mit den kullernden Steinen stückchenweise ebenfalls wieder zurück. Dicke Schweisstropfen glänzen auf seiner Stirne und laufen ihm bald heiss, bald kalt über den Rücken hinunter.

Graf, verzweifelt: Ach Mütterchen, ich kann nicht weiter, ich muss ein wenig ruhen.

Alte Frau, herrisch: Nichts da, erst wenn wir angelangt sind, kannst du ausruhen. Wer weiss, für was das euch noch gut ist.

Der arme Graf will den Sack auf dem Rücken abwerfen, und die Körbe, die ihm an den Armen hängen, niedersetzen. Allein, wie sehr er sich auch rüttelt und schüttelt, es ist wie verhext, der Sack und die Körbe lassen liessen sich nicht abwerfen, als wenn sie an ihm wie angewachsen wären. Die Alte aber lacht närrisch, springt vergnügt um den jungen Grafen herum und schwingt ihre Krücke im Takt dazu, als wäre sie ein junges Mädchen und nicht die gebrechliche Alte von ehedem.

Alte Frau, lachend: Ihr seid ja ganz rot im Gesicht! Seid mir nicht böse. Tragt Eure Last mit Geduld. Ich werde euch auch ein richtig feines Trinkgeld geben, wenn wir zu Hause angelangt sind.

Was soll er nur machen? Ergeben fügt der junge Graf sich seinem Schicksal. Die Last aber wird mit jedem Schritt schwerer und schwerer und plötzlich nimmt die Alte einen Satz und springt auf den Sack den er auf dem Rücken trägt, obendrauf. Sie thront da oben wie eine Königin. Dem Jüngling zittern gleich die Knie, so schwer ist die Last geworden. Die Alte, so dürr sie auch scheint, ist so schwer wie eine dicke Bauernstocher. Wann immer der junge Graf einen Moment inne hält, so schlägt ihm die Alte mit einer Gerte oder mit einem Büschel Brennesselen auf die Beine, als wäre er ein unwilliger Esel oder ein faules Maultier. Unter Ächzen steigt der junge Graf den Berg empor und endlich gelangen sie zum Häuschen der Alten, wo der Graf ermattet niedersinkt.

«Das ist nicht unsere altes Mütterchen», wirft Anni erbost ein.

«Wie können wir das wissen? Wir sind ihr nur ein einziges Mal begegnet!», erwidert Kathi.

«Wollen wir dem Märchen lauschen?», mischt sich der alte Mann ein, der nach wie vor neben mir sitzt, «Ich, nämlich, bin gespannt, wie es weitergeht.»

Da sind auf einmal Gänse, viele Gänse, die, kaum haben sie die Alte von Weitem erblickt, von allen Seiten laut schnatternd daher laufen, die Hälse weit nach vorne gestreckt. Es ist ein Lärm, unglaublich. Hinter den Gänsen kommt eine alte Trulle daher gewatschelt, ein dickes Weibsbild, hässlich wie die Nacht, mit einer Rute in der Hand.

Kathi rief dazwischen: «Das ist doch das alte Mütterchen! Sie hat von ihren Gänsen erzählt, wieviel hatte sie noch? Ah, ja, vierundzwanzig Gänse hätte sie und auch ein Töchterchen.»

«Die alte Trulle? Soll die das Töchterchen sein? Mitnichten!», das war Anni.

Ich gehe auf die Bemerkungen nicht ein. Das Märchen soll endlich erzählt werden.

Alte Frau: Ach, meine lieben Gänsekinder. Habt ihr es auch gut gehabt während meiner Abwesenheit?

Trulle, besorgt: Ihr seid lange weggeblieben, Mütterchen. Ist Euch etwas Böses begegnet?

Alte Frau, fröhlich: Nein, im Gegenteil. Dieser nette Herr Graf hat nicht nur meine Last getragen, sondern, als ich müde war, mich dazu huckepack getragen. Sagt's und rutscht flugs vom Rücken des Grafen herunter.

Alte Frau: Wir hatten es lustig miteinander, haben gewitzelt und gespöttelt und hatten viel Spass miteinander. Uns ist die Zeit nie lang geworden.

Die Alte nimmt die beiden Körbe vom Arm des Mannes und bringt sie in die Küche. Dann befreit sie ihn vom Bündel mit dem Gras und verfuttert letzteres ihren schnatternden Gänsen. Sie ist überhaupt ganz freundlich und höflich und heisst den Grafen sich draussen vor der Hütte auf die Bank zu setzen und sich auszuruhen

Alte Frau: Ihr habt Euren Lohn verdient und der wird nicht ausbleiben. Zu ihrem Töchterchen gewandt: Geh du ins Haus hinein, mein Töchterchen, es schickt sich nicht, dass du mit einem jungen Herrn alleine bist, man muss nicht Öl ins Feuer giessen, sonst verliebt er sich am Ende noch in dich.

Des junge Graf weiss nicht, ob er weinen oder lachen sollte. 'So ein Schätzchen', denkt er, 'selbst wenn es dreissig Jahre jünger wäre, könnte es mein Herz nicht rühren.

Indessen tätschelt und hätschelt und streichelt die Alte die Gänse, als ob diese ihre Kinder wären, und geht mit ihrer Tochter ins Haus hinein. Der junge Graf streckt sich auf der Bank unter einem wilden Apfelbaum aus. Die Luft ist angenehm lau und mild. Ringsum breitet sich eine grüne Wiese aus, die mit Himmelsschlüsseln, Thymian und tausend anderen Blumen übersäht ist. Mitten durch die Wiese rauscht ein klarer Bach, auf dem die Sonne glitzert. Die weissen Gänse gehen auf und ab, spazieren oder pudeln sich im Wasser. 'Es ist recht lieblich hier', denkt der junge Graf, 'aber ich bin so müde. So unheimlich müde ob all der Anstrengung, ich mag meine Augen gar nicht mehr aufhalten, ich werde wohl ein wenig schlafen. Wenn nur kein Windstoss kommt und mir meine Beine vom Leib wegbläst, denn sie sind mürbe wie Zunder.' Da schläft er bereits.

Nachdem er eine Weile geschlafen hat, weckt ihn die Alte.

Alte Frau: Steht auf. Hier könnt Ihr nicht bleiben. Ich weiss, ich hab's Euch reichlich sauer gemacht, aber Ihr lebt und seid gesund und munter. Jetzt will ich Euch Euren Lohn geben. Geld und Gold braucht Ihr ja nicht. Ich habe Euch etwas anderes. Das wird euch einmal grosses, sehr grosse Glück bringen. Bewahrt es wohl!

Damit steckt sie ihm ein kleines Büchslein in die Hand. Es ist ein kleines Büchslein aus einem einzigen grünen Smaragd gefertigt. Der junge Graf bestaunt das Büchslein überrascht und öffnet es. Eine winzige Perle liegt darin.

Die Worte waren mir wie von alleine über die Lippen gekommen. Wie das so ist, wenn sich ein Märchen vor einem entfaltet, man es von allen Seiten anschaut, und dann nur noch erzählt, was man zu sehen bekommt. Ohne eigenes Zutun, quasi. Die Worte schlugen ein wie ein Blitzschlag und Donnerkrachen. Wie ein Unwetter.

Ein einziger. gewaltiger. allumfassender Aufschrei. «Das Buchslein aus grünem Smaragd! Lisas Büchslein mit der Perle drin!»

- 13 - Aufbruch und Ankunft

Du kannst dir kaum vorstellen, welch ein Chaos jetzt losbrach. Alle sprachen durcheinander. Alle sprangen aufgeregt hin und her. Ich wurde mit Fragen überhäuft. Alle, so schien es, stürmten auf mich ein. Ich hielt mir die Ohren zu.

Berta, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war, kletterte auf den Holztisch unter dem Apfelbaum, klopfte an ein Glas, mehrmals, nur ich bemerkte sie. Da schlug aus dem heiterhellen Himmel ein Blitz ins Schloss, das Gott sei Dank mit einem altmodischen Blitzableiter geschützt war, und ein Donnerkrachen erschreckte uns alle. Jetzt war es still. Berta, immer noch auf dem Tisch, aber etwas wackelig, wie es den Anschein machte, hob nochmals das Glas und stupste mehrmals ein Löffelchen daran.

Da kam plötzlich Magdalena ausser Atem durchs Tor der Schlossmauer angelaufen. Nanu? Hatte sie etwa ein Stelldichein, eine kleine Lieberomanze? Sie zwinkerte mir belustigt zu. Wenige Schritte hinter ihr erschien Robin, der Küchen- und Laufbursche für alles.

Auch die Königin in Begleitung des Königs erschienen zusammen mit der Kammerjungfer, die geistesgegenwärtig beide über das Geschehen, also das Märchen und seine unverhoffte Wendung, respektive des Auftauchens des smaragdenen Büchsleins in ebendiesem Märchen, orientiert haben musste.

Berta, die jetzt vom Tisch herunterstieg und sich auf die Bank mir gegenüber hinsetzte, erhob ihre Stimme: «So, jetzt beruhigen wir uns etwas. Wir müssen beratschlagen, was zu tun sei.»

Die Königin ergriff das Wort: «Seid ihr alle mit uns einig, dass ebendieses Büchslein Lisa gehört?»

Wir waren uns einig, mit einer Enthaltung. Meiner.

Fragende Blicke.

Ich räusperte mich: «Ich habe das Märchen erfunden, vielleicht, als die Alte dem jungen Grafen ein Geschenk überreichte, da dachte ich unwillkürlich an den Smaragd, den ja Ihr, meine Königin, Lisa geschenkt habt. Es ist eine Eingebung, eine Ausgeburt meiner Fantasie. Nichts weiter.»

Jetzt meldete sich der alte Mann neben mir zu Wort: «So Vieles, dass Ihr erzählt, wird Wirklichkeit. Ich schlage vor, Ihr erzählt das Märchen weiter und lässt den Grafen Lisa finden und hier ins Schloss führen.»

Raunen und Geplapper ringsum.

Der König blickte uns an und sprach mit grosser Würde: «Wir haben einige Anhaltspunkte, wo die Alte lebt. Erstens führt ein Weg zur Hütte, welche zweitens auf einer Heide steht, wo drittens ein Bach durchrauscht. Viertens führt der Weg steil bergauf. Die Hütte muss sich also sechstens auf einer Anhöhe befinden, nicht zuoberst auf dem Berg, sonst könnte kein Bach durch die Wiese fliessen. Zudem wissen wir siebtens, dass die alte Frau laut schnatternde Gänse besitzt, weshalb wir, wenn wir denn einmal in die Nähe der Hütte kommen, nur dem Gänsegeschrei folgen müssen.»

Zustimmendes Nicken.

«Ihr», damit meinte Anni mich, «könnt doch Euer Märchen so erzählen, dass Lisa darin auftaucht?»

Wieder Getuschel und Wispern allenthalben.

«Genau, Lisa findet den Weg zu uns, weil sie so grosse Sehnsucht nach dem Schloss hat, ähm, ich meine natürlich ihrer lieben Familie, vor allem Anni und mir, dann Berta und Magdalena und Robin, ähm, natürlich auch nach Euch, liebe Mutter und Königin, will sagen euch allen. Von mir aus kann sie auch gleich dem Grafen begegnen und mitbringen! Das ist doch ein Kinderspiel», das war Kathi.

Ich fühlte mich heillos überfordert.

«Versteht ihr denn nicht, dass die Märchenerzählerin einer inneren Eingabe folgt, die sie nicht steuern kann?», kam mir der alte Mann zu Hilfe.

Anni, weinerlich: «Ihr müsst doch nur sagen: 'Lisa taucht unvermittelt und hoch zu Ross im Schloss auf.'»

«So kommen wir nicht voran», tadelte die Königin ihre Töchter und blickte gleichzeitig den König funkelnd an, «Ich schlage folgendes Vorgehen vor: Einige Männer und Jünglinge die kräftig und ausgeruht sind, machen sich nach den Anhaltspunkten, die wir nun kennen, auf die Suche. Der Rest von uns bleibt hier und lauscht der Märchenerzählerin.»

«Ich muss mir die Beine vertreten», tat ich kund, stand auf, der alte Mann ebenfalls und gemeinsam traten wir durchs grosse Tor, verliessen das Tohuwabohu, das jetzt ausbrach, traten in den singenden und klingenden Frühling hinaus.

Kathrin, es ist hier so schön, ich wiederhole mich, ich weiss. Ein Weg führt um das ganze Schlossgelände herum. Nicht nur die Innerseite der Schlossmauern sind bewachsen, nein auch die Aussenseiten. Sie sind ebenfalls berankt von kletternden und rankenden Blütenstauden. Vor allem Rosen blühten in allen Tönen, vom Weiss über zartes Rosa bis hin zu tiefstem Rot. Weiss blühender Jasmin, gelb und rot blühendes Geissblatt, nachtblau blühende Klematis, dazwischen Hopfen und Efeu. Die Rabatte darunter waren ebenfalls aufs Vortrefflichste bepflanzt. Nelken in verschiedensten Farben und Formen, blaue und gelbe Schwertlilien, natürlich die gelbe Färberkamille und das Flohkraut. Ich konnte meinen Blick ob all er Pracht kaum losreissen. Wir setzten uns an den Wegrand. Ach, Kathrin, auch dieser war bedeckt mit dem wilden, stark duftenden Thymian, den man auch Quendel nennt, ich erkannte Steinnelken, die niedlichen Glockenblumen, Kugelblumen, Zimbelkraut und verschiedenen Habichtskräuter.

«Wie friedlich und lieblich es hier ist,», sagte ich und sog all die Düfte in mich ein, «So erholsam!»

«Ausser Ihr werdet bestürmt mit allerlei Erwartungen!», das war der alte Mann.

Wir schauten zu, wie die Suchmannschaft hoch zu Ross durchs Schlosstor trabte, in den Satteltaschen bestimmt Proviant und vielleicht auch Decken für die Nacht mit sich führend. Ich machte den König aus, den Jägermeister, die Stallburschen, Knechte. Bals waren sie alle über die Hügel hinweg in der Ferne des lieblichen Landes verschwunden.

Gerade wollten wir wieder zurück zu all jenen, die auf die Fortsetzung des Märchens harrten, da rannte lachend Magdalena vom Schloss herkommend an uns vorbei, gefolgt von Robin, und einige Schritte dahinter die gute Berta, die ebenfalls in köstlicher Laune zu sein schien. Auf und davon, schoss es mir durch den Kopf. Auf und davon, doch wohin?

Endlich zurück unter dem Apfelbaum.

Just in dem Augenblick, als ich Atem holend, die versammelte Zuhörerschaft um mich herum, will sagen um den Holztisch sitzend, der natürlich wieder mit allerlei Köstlichkeiten reich gedeckt war, ja just in diesem Augenblick, als ich einen tiefen Atemzug nahm, mich räusperte, um weiterzuerzählen, just in diesem Moment wankte eine jämmerliche Gestalt durch das Schlosstor herein, sich kaum noch auf den Beinen haltend.

Anni sprang auf, der wankenden Gestalt entgegen, hielt sie gerade noch vom unweigerlichen Sturz auf, da fasste bereits Kathi die Gestalt auf der anderen Seite, und beide führten sie zu Tisch und liessen sie sich setzen. Die Gestalt war ein Mann. Ein junger Mann, gezeichnet von Entbehrungen.

«Ihr müsst durstig und hungrig sein!», das war Anni.

«Wollt Ihr ein Glas Wein, oder doch lieber Wasser?», das war Kathi.

Der Jüngling schaute auf: «Ich bin seit bald sieben Jahren auf der Suche nach meiner lieben Frau. Ich hab mir geschworen, nicht eher zu trinken und zu speisen, bis ich sie gefunden habe.»

Die Königin erschrak ob dieser Worte, die doch erst vor Kurzem Ihr Gatte, der König im Geheimen zu Ihr gesprochen hatte. «Das ist doch Unsinn!» sagte sie deshalb energisch, «Merkt Ihr denn nicht, wie nahe Ihr dem Tode durch Verdursten und Verhungern seid? Ich dulde keine Widerrede. Ihr esst von diesem köstlichen Brot, aber jeweils nur kleine Bisse, und trinkt kleine Schlucke dieses kräftigenden Rotweins.»

Der Jüngling fügte sich ergeben in sein Schicksal. Bereits nach wenigen Bissen und wenigen Schlucken, röteten sich seine Wangen.

«So, nun sagt uns, wer Ihr seid, und woher Ihr kommt.»

«Ich bin der König von weither und suche meine liebe Frau und mein liebes Kind seit bald sieben Jahre. Wisst, durch die Machenschaften des Teufels musste sie in meiner Abwesenheit mit dem Kind fliehen. Seither suche ich die beiden.» Plötzlich lächelt er und fragt: «Sagt, Ihr beherbergt nicht etwas eine Magd oder eine Dirne, die silberne Hände hat?»

Die Königin liess erschrocken ihre Gabel fallen, die mit Geklirr auf den Boden aufschlug.

Es war mucksmäuschenstill.

«Mein Vater der König hat Eure Gemahlin getroffen!», das war Anni.

«Die hatte einst silberne Hände, hat unser Vater erzählt. Jetzt hat sind angeblich nur noch die Fingerspitzen aus purem Silber!», erklärte Kathi.

«Sie wohnt in einem Häuschen im wilden Wald. Dort hat sie mein Vater, der König, getroffen. Sie gab ihm Speis und Trank!», das war wiederum Anni.

Der junge König am Tisch hatte vermutlich die letzten Worte nicht mehr gehört, denn mit einem tiefen Seufzer war er in Ohnmacht gefallen.

- 14 - Trulle

Nein, liebe Kathrin, ich erspar die Details, die dann folgten. Wie der fremde König in ein Schlafgemach getragen wurde. Wie er dort gehätschelt und gepflegt wurde, gleich der Alten, die ihre Gänse verhätschelt. Ich erspar dir den ganzen Aufruhr. Wichtig ist nur, dass der Trubel und die Aufgeregtheit sich langsam legten und milderten und ich bis dahin unter dem blühenden Apfelbaum sitzen blieb, neben mir der alte Mann, der für einmal weder dir Rosen pflegte noch die Wege wischte. Wir sassen an den dicken Stamm des Baumes gelehnt, gleich Zuschauern, die ein Spektakel verfolgen, der alte Mann hatte mir vom tiefgoldenen Weisswein nachgeschenkt. Ich kaute ein Radieschen und bestrich eines der weissen Brötchen mit Butter und Honig.

«Das Märchen macht wundersame Schlaufen», murmelte er und trank einen grossen Schluck des Weines, denn er hatte sein Glas ebenfalls nachgefüllt, «verwirrend verschlungen, aber sehr interessant.»

Nach und nach gesellten sich die Zuhörer zu uns.

Ich räusperte mich. Das Märchen musste ja weitergehen, ich selbst wusste jedoch nicht, wohin es mich führen würde. Mochten die Zuschauer auch denken, ich hätte die Fäden in der Hand, das Märchen sei eine Marionette, dich ich in beliebige Richtungen lenken konnte, dem ist nicht so. Ich, die Märchenerzählerin, hatte nicht die geringste Ahnung, auf was ich mich einliess.

Ich räusperte mich erneut und erzählte weiter.

Nachdem der junge Graf sich gehörig bei der Alten für das kostbare Geschenk bedankt hat, macht er sich auf den Heimweg, ohne sich nach dem schönen Töchterchen umzublicken. Ironie kannte man wohl bereits in den alten Märchensagen. Manchmal hilft schwarzer Humor über Unangenehmes hinweg, auch das war schon damals so. Noch von Ferne hört er das lustige Geschrei der Gänse.

«Er wird sich verirren», flüsterte Anni aufgeregt.

«Pst!», zischte es von allen Seiten.

Der Graf ist guten Mutes. Es ist auch ein überaus wundervoller Frühlingstag. Die Vögel zwitschern ihm aus dem Geäst der Bäume zu.

Er folgt dem Bächlein, das durch die Wiese rauscht, denn er will nicht mehr den steinigen Weg nehmen, den er so mühsam hochgekraxelt ist. Er will sich auch nicht an all die Mühsal und Qual erinnern müssen. Bald erreicht er ein kleines Tal und folgt dem Bach, bis er an eine sumpfige Stelle kommt, die er nicht durchqueren kann. 'Na gut, dann geh ich eben wieder hoch', sagt's und kraxelt an der gegenüberliegenden Seite des Tälchens empor. Es dämmert. Doch er schreitet weiter aus. Es ist so viel einfacher ohne Last auf dem Rücken den Berg hinaufzusteigen. Bald sieht er ein hell erleuchtetes Häuschen, aus dessen Kamin fröhlich Rauch emporsteigt. 'Die haben's lustig da drinnen', denkt er und hört plötzlich ein leises Schnattern. Neben dem Haus steht ein kleines Hüttchen, vielleicht ein Stall, vielleicht ein Koben für Federvieh. Was tun? Er klopft an die Türe. Er hofft, er hätte für diese Nacht hier ein Obdach gefunden. Auf den Bäumen übernachtet er nur im Notfall.

Die Trulle öffnet die Türe, worauf er zwei Schritte zurückmacht, so erschrickt er sich. Sie scheint viel hässlicher als er in Erinnerung hatte.

Trulle, ins Haus hineinrufend: Mütterchen, der Graf ist zurück.

Die Alte aus dem Haus: Aber der junge Graf ist doch am Mittag losgezogen. Töchterchen, du musst dich irren.

Graf, rufend: Gute Frau, ich bin's wirklich.

Die Alte, zur Türe herausschauend, bestürzt: Ihr seid es wahrhaftig! Ihr müsst Euch gehörig verirrt haben. Verschmitzt: Oder hattet Ihr Sehnsucht nach meinem schönen Töchterchen?

Graf, entsetzt: Gott bewahre!

Die Alte: Ihr habt Euch verirrt, was mich nicht weiter verwundert. Euer Ruf eilt euch voraus. Aber Ihr könnt hier nicht bei uns im Häuschen übernachten. Das ziemt sich nicht. Ihr wisst, ich will nicht, dass Ihr Euch noch in mein Töchterchen verliebt. Aber der Gänsestall, der steht euch offen. Dort habe ich eine Futterkiste, die eignet sich als Bettstatt. Ich gebe euch noch eine dicke Decke, dann liegt ihr ein wenig weicher. Ich pack Euch gleichen einen Korb mit Wein, Brot, Käse und Wurst, dann seid Ihr aufs Vortrefflichste verpflegt.

Der Graf macht sich's tatsächlich im Gänsestall bequem, streckt auf dem Futterkaste die Beine aus. Er hat die Jacke abgelegt, sie zusammengeknüllt und so hat er ein weiches Ruhekissen. Er trinkt vom feinen Wein, und isst die belegten Brotschnitten. Wie er so liegt, der Bauch wohlig voll, und durchs Fenster in die dunkle Nacht hinausschaut, da erblickt er in der Ferne ein goldenes Leuchten. Die Hirschkuh! Das muss die Hirschkuh sein, die er am Weiher beim Wasserfall beobachtet hat.

Flugs zieht er die Jacke wieder über und eilt hinaus, in die dunkle Nacht, nur in der Ferne schillert das irisierende Licht. Er pirscht sich langsam voran, bedacht, dass nicht etwa Ast unter seinen Füssen knackt, oder ein Stein davon kollert. Er schleicht sich durchs Dickicht, kommt dem Leuchten näher und näher. Da, jetzt hat er mit der Schulter einen dürren Ast gestreift, der prompt zu Boden fällt, es ist nur ein leiser Laut, aber das goldene Licht verschwindet augenblicklich. Wie schade!

Doch wo er sich jetzt umblickt, gewahrt er einen Weiher direkt vor ihm, und jenseits des Weihers äst die weisse Hirschkuh, von der ein schwaches Schimmern ausgeht. Im verschlägt es den Atem. Wie gebannt bleibt er stehen, wagt nicht, sich zu rühren, kaum zu atmen. Er möchte das Tier nicht verscheuchen.

Da stupst ihn unvermittelt jemand an die Hand. Vor Schreck wird er stocksteif. Zum Glück, denn nun hört er ein Flüstern.

Trulle: Keine Angst, bleib ganz ruhig, wir wollen sie nicht verscheuchen. Eigentlich ist sie zahm, aber sehr ängstlich.

Graf: Du hier? Und zahm sei die Hirschkuh, hast du gesagt?

Trulle: Ja, ich habe sie gezähmt. Ich bin oft hier am Weiher, wenn es eindunkelt. Ich bade hier und konnte die Hirschkuh oft beobachten. Sie äst hier und trinkt, dann verschwindet sie. So hat sie sich an mich gewöhnt. Einmal nahm ich eine Karotte mit und habe sie an die Stelle gelegt, wo sie sich stets aufhält. Sie hat die Karotte beschnuppert und dann mit Behagen gefressen. So habe ich es jeden Abend getan. Nach vierundvierzig Tagen habe ich mich der Hirschkuh mit der Karotte in der Hand genähert. Sie ist nicht davongelaufen, sondern stehen geblieben. Seither bringe ich ihr immer etwas mit. Saftiges Gras, das mein Mütterchen für die Gänse geschnitten hat, oder einen schmackhaften Apfel oder eine süsse Birne.

Der Graf hat ihr staunend zugehört. Die Trulle ist zwar hässlich wie die Nacht, oder noch viel hässlicher. Sie ist unförmig, plump, als hätte sich der liebe Gott einen Spass erlaubt. Das Gesicht ist aufgedunsen und geht geradwegs in einen dicken Hals über. Schwarze Augenbrauen, hat sie, dichte, lange, ein wenig gekraust, die ihr in die Augen fallen. Ihr Mund ist übergross und wulstig, die Nase hingegen viel zu schmal. Aber sie scheint sich in ihrem Körper wohlzufühlen, als wäre sie eine Schönheit und keine scheussliche Missbildung, und ihre Stimme klingt lieblich und melodisch.

Graf: Wenn du oft hier bist. Hast du das goldene Leuchten auch gesehen?

Trulle, mit einem Achselzucken: Ach, das goldene Leuchten. Das ist nur ein Irrlicht, das manchmal hier herumspuckt. Aber möchtest du nicht mit mir zur weissen Hirschkuh? Du hast sie ja schon so lange gesucht, seit sie in deinen Träumen aufgetaucht ist?

Graf, verdutzt: Woher weisst du das?

Trulle, mit einem Achselzucken: Ach hier in der Wildnis erzählen einem die Vögel und allerlei Getier, was da los ist und überall in der Welt geschieht.

Graf, noch verdutzter: Du verstehst die Tiere?

Trulle: Ja freilich! Aber komm jetzt, sonst verpasst du die Hirschkuh. Sie wird nächstens von hier verschwinden.

So kommt es, dass der junge Graf Hand in Hand mit der hässlichen Trulle um den kleinen Weiher spaziert, wo die weisse Hirschkuh witternd auf sie zu warten scheint. Die Trulle streckt ihr ihre Hand hin, wo sie einen Apfel draufgelegt hat. Die Hirschkuh knappert zuerst sachte daran und frisst ihn zuletzt mit einem einzigen Bissen auf.

Trulle: Wenn du möchtest, kannst du sie streicheln.

Aber der Graf ist von den Ereignissen dermassen in Bann genommen, dass er nur ergriffen zuschaut.

Wie er wieder zurück zum Gänsestell gekommen ist, kann er sich beim Aufwachen nicht erinnern. Verbrieft ist jedoch, dass er am nächsten Morgen im Stall erwacht, verwundert den Kopf schüttelt und zu sich sagt: 'Jetzt hast du aber einen wunderlichen Traum gehabt, mein Lieber.'

Verbrieft ist ebenfalls, dass die Alte ihn an diesem Morgen gehörig scheltet. Er sei ein Tollpatsch und müsse sich nun beeilen. Auf keinen Fall dürfe er sich wieder verirren. Er hätte bereits einen ganzen Tag verloren. Jetzt hätte er nur noch zwei Tage Zeit, das Schloss zu erreichen, wo man ihn sehnlichst erwarte.

Der junge Graf ist ganz verdutzt, weil er vordem nicht gewusst hat, dass er zu einem Schloss müsse. Doch welchem? Schlösser und Königreiche gibt es viele in der Gegend, überlegt er. Welches Schloss wohl die Alte meint? Die Alte scheint sein Zögern zu merken.

Alte Frau: Hier gebe ich Euch einen Zauberstein mit. Er ist jetzt schwarz. Wenn Ihr Euch in der richtigen Richtung bewegt, so wird er weiss. Wenn Ihr in der Nähe des Schlosses seid, werden Euch berittene Kundschafter entgegenkommen. Ich sage Euch: In diesem Moment werden sie im Schloss alles daransetzen, Euch willkommen zu heissen. Ach, fast hätte ich's vergessen: Der Stein leuchtet in der Nacht, so findet Ihr den Weg, auch wenn es dunkel ist.

Graf, etwas baff, reckt sich dann in die Höhe, wie ein Befehlsempfänger: Vielen Dank liebes Mütterchen. Und habt Dank für die gute Unterkunft. Ich habe tief geschlafen und viel Wirres geträumt. Jetzt beeile ich mich, wie Ihr's mir geheissen habt.

Alte Frau: Nicht so schnell, Ihr Dummling. Zuerst müsst Ihr ausgiebig Frühstücken. Wer weiss, ob Ihr in den nächsten Tagen dazu Zeit oder Gelegenheit haben werdet.

- 15 - Perlen

Ich gestehe, meine liebe Kathrin, noch nie habe ich ein Märchen erzählt, das so viele Male und mit solcher Heftigkeit unterbrochen worden ist. Und noch nie haben die Zuhörer gleichzeitig so gespannt an meinen Lippen gehangen.

Alsbald ich erwähnte, dass der Graf im Schloss erwartet würde, brach ein Tumult aus. Was ich natürlich verstehen kann. Anni und Kathi schauten mich verblüfft an, die Königin nickte zufrieden lächelnd. Der alte Mann raunte mir bewundernd zu, er hätte volles Vertrauen in mich gehabt, dass ich nämlich der Geschichte die rechte Wende gäbe.

Es war hoffnungslos, ihnen zu erklären, ich hätte just bis zum Moment, wo die Alte – oder das Mütterchen, je nachdem, was man in ihr sieht – den jungen Grafen schalt, er müsse sich beeilen, er würde im Schloss erwartet, eben nichts davon gewusst hatte. Meine Zuhörerschaft waren unbeirrbar davon überzeugt, der junge Graf würde nun hier erwartet, in ebendiesem Schloss und nirgends sonst. Hatte der Graf nicht höchstpersönlich festgestellt, dass es zahlreiche Königreiche in diesen Landen gab? Aber nein. Alle waren der felsenfesten Überzeugung, dass sich der Graf zu diesem Schloss hier aufmachen würde und nirgendwo andershin. Alles andere würde doch keinen Sinn ergeben. Denn es kann nicht sein, was nicht sein darf.

Ich erwiderte nichts.

Ein emsiges Treiben ging nun los. Eine chaotische Betriebsamkeit. Zum Glück tauchte Berta auf – wieder einmal wie aus dem Nichts – und fing mit ihrem ausgeprägten Sinn fürs Pragmatische, die Dinge zu ordnen. Abermals stieg sie auf den Tisch, doch jetzt brauchte es weder Blitz noch Donnerkrachen aus heiterem Himmel, jetzt hörten ihr augenblicklich alle zu.

Auch der junge Graf, so erklärte sie uns, hätte vor seiner Wanderung noch Speis und Trank zu sich genommen. Deshalb beorderte sie die Küchenmannschaft in die Küche, damit sich die Kundschafter vor ihrem Dienst noch reichlich stärken könnten und so bei Kräften blieben. Dann forderte sie mich auf, dringend weiterzuerzählen, denn vielleicht gab es auch Hinweise darauf, in welche Richtung die Kundschafter nachher ausschwärmen sollten.

Der alte Mann goss mir einen Becher frischen Quellwassers ein, denn langsam, aber sicher stieg uns beiden der Wein zu Kopfe.

«Mögt Ihr denn noch weitererzählen?», fragte er mich mitfühlend.

Ich nickte.

Nein, eigentlich wollte ich alles andere als weitererzählen. Am liebsten hätte ich eine Pause eingelegt, hätte einen Spaziergang draussen um die Schlossmauern machen, mich am Duft der zahlreichen blühenden Stauden und Rosen erfreuen wollen, aber ich fügte mich, sah ein, dass meine Aufgabe jetzt wichtig war. Oder etwa nicht? Vielleicht war der jung Graf ganz woanders, und ich erzählte nur, was die Leute hören wollten.

«Es gibt keine Garantie, dass das, wohin das Märchen mich führt, seine Richtigkeit hat. Vielleicht fabuliere ich nur herum und werde alle enttäuschen», antwortet ich ihm.

«Habt Vertrauen. Euere Eingebungen haben sich heuer fortwährend als echt erwiesen», ermutigte er mich.

Inzwischen hatten die Küchenmägde und Küchenburschen erneut Speis und Trank aufgetischt. Ein Ah und Oh war zu hören. Ein Raunen und Flüstern.

«Wie konntet ihr in so kurzer Zeit so viel Neues kochen und backen?», fragte die Königin, worauf Berta und Magdalena strahlend lächelten und sich höflich vor ihr verneigten.

Da kam auch der junge König, begleitet von den gutgelaunten Zwillingsschwestern Anni und Kathi. Der junge König, der – heute oder gestern? – im Schloss Herberge fand. Er sah viel kräftiger aus als – heute – gestern? – und sehr hübsch. Er ist so jung noch, von schlanker, kräftiger Gestalt. Nur die dunklen Augenringe zeugten von seinem tiefen Leid. Augenblicklich tat er mir leid. Seit Jahren suchte er seine liebe Frau und sein Kind, von dem er nicht einmal wusste, ob es ein Junge oder Mädchen sei. Das dünkte ein mich unvorstellbarer Kummer. Ja, ich muss das in der Vergangenheit schreiben, liebe Kathrin, denn heute, da strahlt der junge König und die Augen glänzen vor Zuversicht. Vor Leid keine Spur. Die dunklen Augenringe wie weggeblasen. Aber ich will nicht vorgreifen.

Ich räusperte mich, nahm noch einen Schluck des erfrischenden Wassers und erzählte weiter.

So zieht der Graf von dannen, gleichzeitig auf den Stein in seiner Hand und auf den Weg achtend. Er geht ein wenig im Zickzack, denn mal wird der Stein gräulich, dann ändert der junge Graf die Richtung, mal bleibt er weiss, und der Graf schreitet mit grossen Schritten vergnügt voran, dann wiederum wird der Stein dunkler und der Graf mässigt korrigierend seinen Lauf.

Trotz des Hin und Hers gelangt er schnurstracks zum Weiher, wo er letzte Nacht die Trulle getroffen und die weisse Hirschkuh geäst hat. 'Ich habe das alles gar nicht geträumt, es ist wahr, ich habe die Hirschkuh wahrhaftig beobachtet', stellt er überrascht fest, 'die Trulle ist zwar abgrundtief hässlich aber sehr nett und selbstbewusst.'

Da steht er nun, der junge Graf, guckt sich gedankenvoll und träumerisch, ja, wie entrückt um, da entdeckt er am Boden etwas, das seinen Blick anzieht. Sind es Kieselsteine? Sind es die weissen Blüten von Buschwindröschen? Nein, es sind Perlen. Lauter kleine Perlen liegen da verstreut, stellt er verdutzt fest. Er bückt sich und hebt eine der Perlen auf. Sie sehen genau gleich aus, wie die eine Perle, mit diesem leicht rosa-bläulichen Schimmer, die in diesem edlen, glasklaren Smaragdbüchslein steckt, das er in seiner Jackentasche wohl verwahrt hat, nur ein wenig grösser.

Der junge Graf ist ratlos. Irgendjemand muss hier eine Perlenkette verloren haben. Ob er die Perlen auflesen soll, zum Häuschen der Alten zurückgehen und dem alten Mütterchen seinen Fund zur sicheren Aufbewahrung bringen soll?

Er dreht sich um, da wird der Stein in seiner Hand rabenschwarz.

Er zuckt mit den Achseln und wandert ergeben weiter. Es geht über Stock und Stein. Manchmal führt der Weg entlang eines Waldrands, mal durch Wiesen und Äcker, manchmal durch Wälder. Oft durch Wälder. Als es dämmert und dunkelt, da beginnt der Stein fürwahr zu leuchten an und führt in schnurstracks zu einer kleinen Hütte. Ein Schild ist bei der Hütte angenagelt, darauf steht: 'Hier wohnt jeder frei'. Die Türe steht offen und eine weisse Gestalt erwartet ihn.

Der Graf beginnt vor Ergriffenheit zu beben und verbeugt sich: Ich habe Euch vor vielen Jahren gesehen, als Ihr ein Mädchen ohne Hände über das Wasser zu einer kleinen Insel geleitet habt.

Engel: Ja, das stimmt. Ich habe dich ebenfalls gesehen. Aber kommt herein. Der Tisch ist gedeckt.

Drinnen wird er von einer jungen Frau begrüsst. Auch vor dieser geht der junge Graf ergeben auf die Knie.

Junge Königin: Steht auf, mein Herr Graf. Es wurde uns kundgetan, dass Ihr uns heute Abend erreicht auf Eurem Weg, der Euch bestimmt ist. So setzt Euch hier an den Tisch in meiner kleinen Küche und speist mit mir. Ich bitte Euch.

Da fällt dem jungen Grafen auf, dass die Fingernägel der jungen Königin mit silbernen Punkten gesprenkelt sind.

Das bemerkt die junge Königin und erklärt: Ich hatte einmal keine Hände, mein Mann liess mir silberne Hände anfertigen, jetzt hat der gütige Gott mir meine natürlichen Hände nachwachsen lassen.

Jetzt betritt ein junger Knabe aus dem Raum daneben die Küche.

Junge Königin: Mein lieber Junge, sag dem jungen Grafen guten Abend.

Junge: Guten Abend. Bist du mein Vater?

Graf, überrascht. Nein dein Vater bin ich nicht.

Junge Königin, erläuternd: Uns wurde verheissen, dass sein Vater bald bei uns eintrifft. Es kann sich nur um Tage handeln, jetzt hat mein lieber Junge gedacht, Ihr wärt der Vater.

Graf, in die Knie gehend und zum Kinde gewandt: Wie heisst du denn, mein lieber Junge?

Junge: Ich heisse Schmerzensreich. Und Ihr?

Graf: Ich heisse Sebastian. Sebastian, Simon, Johann, Jonas, Leonhard, William, Vincent Von Lilienberg.

Junge, verdutzt: Oh, ihr habt viele, viele Namen!

Graf: Meine Eltern dachten, ich könne mir dann mal aussuchen, welcher der Namen mir am besten gefällt und mit welchem ich angesprochen oder gerufen werden soll.

Junge: Und, wie wollt Ihr denn angesprochen sein?

Graf: Jetzt gerade lasse ich mich von meinen Freunden Sebastian rufen. Vielleicht werde ich einmal meinen zweiten Namen verwenden. Versonnen: Vielleicht, wenn ich meine Liebe des Lebens finde.

Junge: Meine Mutter hat gesagt, ich dürfe mir einen Namen wählen, wenn ich erst meinen Vater kennenlerne. Schmerzensreich finde ich so schmerzvoll.

Graf, mitfühlsam: Wo hält sich denn dein Vater auf?

Junge: Das wissen wir nicht.

Hoppla, ich wurde aus meiner Erzählung herausgeholt. Wieder einmal jäh unterbrochen.

«Sie lebt!», freute sich der junge König enthusiastisch, «Meine liebe Frau und mein Sohn sind am Leben! Und ich werde sie in Kürze sehen. Was für eine Freude! Lasst uns alle anstossen auf mein Glück!»

Da ergriff die Königin das Wort: «Ja, lasst uns auf das Glück des jungen Königs anstossen. Wir wissen ja jetzt, dass der junge Graf in dieser Hütte übernachten wird. So können auch wir uns einen ruhigen, unaufgeregten Abend und eine ruhige, erholsame Nacht gönnen. Kundschafter: Ihr werdet erst morgen Vormittag ausschwärmen und die Märchenerzählerin wird uns dann ebenfalls weiterberichten.»

– 16 – Der Müller

Ein neuer Tag bricht an. Ich hole mir in der Küche nur eine Tasse Kaffee und setze mich auf die Wiese, draussen vor den Schlossmauern, wo ich letzthin gemeinsam mit dem alten Mann sass. Wie herrlich es hier ist. Ich kann mich nicht sattsehen. Ach, wie werde ich diese Vielfalt an blühenden Blumen vermissen, wenn ich nach Weihnachten wieder nach Hause zurückkehre. Hier scheint die Welt so seltsam heil – und erholsam – und milde – und lieblich. Wenn auch, ich gebe es zu, es durchaus menschlich zu und hergeht. Oder müsste ich gar unmenschlich sagen? Nein, ich will jetzt nicht an den erbarmungslosen Müller denken und auch nicht an den viel zu spät reuigen König. Nein, Schluss mit diesen Gedanken!

Ich höre den Vögeln zu. Spatzen zwitschern von allen Seiten, Tauben turteln auf den Dachfirsten, Schwalben fliegen in Eile hin und her, ihr Jungen im Rossstall fütternd. Leichte Wölkchen schweben über den blauen Himmel dahin wie kleine Segelschiffe über ein stilles Gewässer.

Vielleicht kann ich ja den ganzen Tag hier sitzen bleiben und einfach mal das süsse Nichtstun geniessen. Das Dolce far niente, wie es die Italiener treffend ausdrücken. Was soll schon geschehen? Der Graf hat seinen wegweisenden Stein und dieser wird ihn – sofern ich mich nicht gründlich getäuscht und vertan habe – unvermeidlich hierherführen. Eigentlich, so überlege ich, ist das Märchen jetzt zu Ende. Mit dem Stein wird der junge Graf sowohl den jungen König zu seiner Gemahlin im kleinen Häuschen führen, ebenso wie den König und die Königin zur alten Frau, die mit ihrer Trulle und ihren Gänsen einsam in einer Hütte auf einer Heide im Wald wohnt. Die alte Frau wird bestimmt wissen, wo sich Prinzessin Lisa aufhält.

Was hat die Alte dem Grafen noch gesagt? Das smaragdene Büchslein werde ihm Glück bringen. Vermutlich wird er von dem Königsehepaar reichlich belohnt, so träume ich vor mich hin und mir die Geschichte weiter.

Ich schliesse die Augen und drifte in einen tranceähnlichen Zustand. Spüre die angenehme Sonnenwärme auf meiner Haut, höre das Summen und Brummen von Bienen und Hummeln, das Zirpen der Grillen und Heuschrecken, atme den Duft all der Kräuter und Wiesenblumen ein. Da reisst mich jäh ein Lachen aus dem Halbschlaf. Ich blinzle und sehe Magdalena, die Küchenmagd, Hand in Hand mit Robin, dem Küchenburschen, davonschlendern. Turteltäubchen denke ich schlaftrunken. Nach einer Weile höre ich Schritte und öffne die Augen erneut. Ich erblicke Berta mit eiligen Schritten durchs Schlosstor laufen, offensichtlich denselben Weg nehmend wie vorhin Magdalena und Robin.

Schon gleite ich zurück in meinen entrückten Zustand, da weckt mich Anni.

«Ihr müsst jetzt aufstehen. Alle erwarten Euch!», macht sie mir klar.

«Es gibt nichts zu erzählen», erwidere ich gelassen.

«Das weiss doch keiner. Steht auf und kommt mit. Alle warten. Vor allem der junge König, aber auch meine Eltern, die Königin und der König.»

Ich erhebe mich, nehme noch einen tiefen Atemzug und merke, wie erfrischt und erquickt ich mich fühle. Ich folge Anni zum Schlosshof und setze mich bei einem angestammten Platz nieder. Der alte Mann giesst mir eilends eine Tasse Kaffee ein. Ich schaue mich um. Alle sind da, alle bis auf Berta, Magdalena und Robin.

Ich räuspere mich und füge mich meinem Schicksal, nehme den Faden wieder auf:

Es ist Morgen. Der Graf hat überaus gut geschlafen in einem weichen Bett im Häuschen der jungen Königin und ihrem Sohn Schmerzensreich. 'Ob es am Engel liegt, der uns bewacht?', überlegt er.

Nach dem einfachen, aber wohlschmeckenden Frühstück, sagt der junge Graf zu Mutter und Kind mit den besten Abschiedswünschen Lebewohl. Der wachsame Engel segnet ihn, der Stein weist ihm wiederum den Weg.

Es geht über Stock und Stein, aber stetig hügelabwärts. Bald erreicht der junge Graf ein Tal, kein breites, aber ein breiter Bach strömt dadurch und bald schon entdeckt er eine Mühle in einem kleinen Wäldchen. Der Stein führt ihn direkt zur Mühle, obwohl er deshalb den breiten Weg kopfschüttelnd verlässt. 'Warum nur der Umweg?', fragt er sich.

Als der junge Graf näher an die Mühle herankommt, erschrickt er, denn die Gebäude, Mühle wie Wohnhaus, sind dermassen heruntergekommen. Im Dach fehlen Ziegel, der Verputz der Mühlewände blättert ab. Der Vorplatz ist wüst und überwuchert von dornigem Gestrüpp. Das Mühlrad steht still. Die hölzerne Zulaufsrinne ist hoffnungslos mit Laub und allerlei Müll verstopft, die hölzernen Schaufeln morsch und von grünen Algen bewachsen. Nein, da wurde schon längst kein Korn mehr gemahlen. Das einzig Unversehrte ist ein ausladend mächtiger und herrlich blühender Apfelbaum hinter der Mühle.

Auf einer brüchig aussehenden Bank vor der Mühle sitzt einsam ein ältlicher Mann, der eigenartig hin und her schaukelt und manchmal den Kopf schüttelt. Auch er sieht ungepflegt aus wie das Haus und die Mühle, die Kleider abgetragen, die Schuhe löcherig, der Bart ungestutzt.

Müller: Kommt her, Fremder.

Graf: Grüss Gott Euch!

Müller: Schon lange hat sich keiner mehr hierhergewagt. Sagt, habt Ihr euch etwa verirrt?

Graf: Nein, der Stein hier, der mich zum Schloss bringen soll, wo ich erwartet werde, hat mich hierhergeführt.

Müller: Bevor Ihr fragt. Ich habe mein Leben vertan, müsst Ihr wissen. Im Haus drin sind alle Schränke, Kommoden und Regale voller Kostbarkeiten, Geld, Gold und Schmuck und was sonst noch, weiss der Henker. Aber das nützt mir nichts. Ich habe meine Tochter eingetauscht für all den Schund. Ich war arm früher, bettelarm. Doch wie ich heute weiss, war ich reich. Ich hatte eine liebe Tochter und eine Frau. Ich bin auf eine teuflische List hereingefallen. Doch anstatt meinen Mann zu stehen, habe ich meine Tochter dem Teufel preisgegeben. Ich bin ein Egoist, habe nur an mich gedacht. Ich dachte, ich würde am Leben bleiben, wenn ich dem Teufel meine Tochter ausliefere.

Der Müller schnäuzt sich mit einem alten Taschentuch.

Müller: Der Teufel hatte keine Macht über meine Tochter, sie war zu rein. Da ist er wütend geworden und hat mich geheissen, meiner Tochter, mit einem Aufschrei meiner leiblichen Tochter die Hände abzuschlagen. Sonst würde er mich mit sich nehmen, hat er mir gedroht. Ich Feigling habe ihm versprochen zu tun, wie er geheissen.

Der Müller schüttelt sich und schnäuzt sich abermals.

Müller: Ich hab's getan. Ich habe es tatsächlich getan. Ich habe ein Beil genommen, meine Tochter geheissen, die Hände auf das Hackklotz zu legen und habe ihr die Hände abgehackt. Ich habe sie vorher noch um Verzeihung gebeten. Sie hat es mir erlaubt! Denkt nur, sie hat es mir erlaubt. Sie sei meine Tochter, hat sie gesagt, ich dürfe tun, was ich wolle. Ich Narr, schändlicher. Sie hat mir verziehen. Mir ekelt vor mir selbst. Doch meine gütige Tochter hat auf ihre Stümpfe geweint und der Teufel konnte ihr dennoch nichts anhaben, ihr kein Leid tun. Sie ist von dannen gezogen, wollte nicht mehr hierbleiben. Meine liebe Gemahlin verliess mich tags darauf. Ich habe keine von beiden je wieder gesehen.

Der Müller wischt sich die Tränen ab, die über seine Wangen rinnen.

Müller: Ich bete Tag und Nacht, dass es ihnen gut geht. Versteht Ihr nun, dass ich unbezahlbare Schätze in meinem Hause habe, reicher als der reichste König bin, und dennoch arm? Versteht Ihr nun, wie reich ich vordem war?

Der Graf hat atemlos zugehört. Es ist ihm sofort klar geworden, dass dieser reumütige, schuldbewusste Müller hier der Vater des Mädchens ohne Hände ist. Jenem Mädchen, das jetzt zur Frau gereift, die junge Königin ist, in der Hütte im Walde lebt, bewacht und geführt von einem Engel, zusammen mit ihrem Söhnchen Schmerzensreich. Und bald schon, so die Prophezeiung, wird ihr Gemahl sie finden und sie werden sich in die Arme schliessen.

Der junge Graf legt dem Müller seine Hände tröstend auf die Schulter.

Graf: Hört mir zu, guter Mann. Ich habe heute Nacht in einer Hütte übernachtet, dort, wo sich Eure Tochter aufhält. Sie ist eine Königin, die jedoch wegen einer List des Teufels fliehen musste. Ihr Ehegatte, der junge König, hatte ihr einst silberne Hände geschenkt, doch inzwischen hat der gütige Gott ihr ihre natürlichen Hände nachwachsen lassen. Sie hat einen kleinen Sohn. Ihr seid also auch Grossvater.

Der Müller, als er dies hört, fängt an zu weinen. Es schüttelt ihn durch und durch. Er weint und dankt Gott, schluchzt weiter und dazwischen stammelt er Gebete.

Graf: Sagt, kann ich etwas für Euch tun? Oder wollt Ihr gar mit mir kommen. Ich bin auf dem Weg zu einem Schloss in einer wichtigen Mission.

Müller, weinend: Nein geht allein. Ich habe es nicht verdient, dass jemand mir Gutes tut. Ich bleibe hier bei meiner Mühle und werde nun fortdauernd Gott danken. Geht, geht! Erfüllt Eure Mission. Vielleicht hat Euch der liebe Gott durch diesen Stein zu mir geschickt, damit ich erfahre, wie es um meine Tochter steht. Das ist mir Glücks genug.

Da wird der Stein wieder weiss, der junge Graf verabschiedet sich höflich, wie es sich einem Grafen geziemt und geht den Weg, der dem Bachlauf folgt, weiter und weiter, durch das liebliche Land, mit lieblichen Wiesen und Feldern mit reifendem Korn, und kleinen Wäldchen, immer weiter, bis er ein lautes und freudiges Wiehern hört, dass er nur zu gut kennt. Es ist sein Ross, das er am Waldrand zurückgelassen hat. Er steigt auf und galoppiert davon, auf dem Weg, der ihn schnurstracks zum Schloss führen wird. Das jedenfalls, hofft er innigst.

– 17 – Die Ankunft des Grafen

Ich schwieg und schaute auf. Ich erwartete erneuten Trubel und Tumult. Ich erwartete, dass die Kundschafter hastig aufstünden, zu ihren Pferden rennen und die Gegend nach dem hoch zu Ross ankommenden Grafen Ausschau halten würden. Aber nein. Jetzt, wo ich auf Chaos und Aufgeregtheit gefasst war, da geschah nichts.

Die Königin hielt die Hand ihres königlichen Gatten. Tränen schimmerten in ihren Augen. Der König war fahl im Gesicht. Der junge König sass starr da. Die Kundschafter harrten auf den Befehl zum Aufbruch.

Endlich erhob sich der alte Mann und sprach zu den Kundschaftern: «Ihr Kundschafter. Es geht los. Reitet die ganze Gegend gegen Norden hin ab. Denn ich bin gewiss, er kommt von Norden her, wo die Berge liegen. Wir wissen zwar, dass der Graf bald bei uns eintreffen wird, aber den genauen Zeitpunkt kennen wir nicht, noch welchen der vielen Wege, die von Norden her zu uns führen, er eingeschlagen hat. Nehmt eure Fanfaren mit, so könnt ihr den Grafen königlich begrüssen und uns seine Ankunft ankündigen. Dass ihr den Grafen freundlich hierher geleitet, dürfte euch allen klar sein. Gebt gut acht auf ihn.»

Jetzt hatte sich die Königin ein wenig gefasst und wendete sich an ihre Untergebenen: «Die Küchenmannschaft soll hier alles abräumen und neue Gläser und neues Geschirr und neue Speisen und Getränke bringen. Der Graf wird bestimmt hungrig und durstig sein. Wir wollen ihn nicht darben lassen, nein wir wollen ihm ein Festmahl bieten. Ihr Mägde und Knechte: Wischt die Wege und Plätze, holt Blumensträusse, schmückt die Tische und was immer zu schmücken ist, dann holt ihr die Throne nach draussen und rollt den roten Teppich aus bis zum Schlosstor. Danach kleiden wir uns alle mit unseren Festtagsgewändern. Denn es ist wahrlich ein Fest, eine grosse Freude, dass heute der Graf kommt, der hoffentlich ...», ihr brach die Stimme.

Es ist nichts klar. So wurde mir plötzlich bewusst. Alles ist in der Schwebe, alles liegt noch offen vor uns. Es gibt keine Gewissheiten. Es gibt viel zu viele Möglichkeiten.

Die Königin und der König wünschten sich natürlich, dass der Graf komme und er genau der Graf wäre, den wir am kleinen See getroffen hatten, der im Märchen das smaragdene Büchslein erhalten hatte. Sie erwarteten inständig, dass das Märchen kein Geflunker oder Trugbild sei, sie hofften, dass alles wahr werde. Dass der Graf mit dem Büchslein auftauche und sie dann zurückgeleite, zur alten Frau, die mit ihren Gänsen und der Trulle weit weg wohnt, und die dann hoffentlich weiss, woher das Büchslein stammt. Die vielleicht sogar weiss, wo sich die Prinzessin Lisa befinde. Dass Lisa noch lebe und nicht von den wilden Tieren gefressen worden sei.

Der fremde junge König wiederum hegte die Erwartung, dass der Graf ihm aufzeigen könne, wo sich die Hütte befände, wo seine geliebte Frau mit ihrer beiden Sohne und dem Engel wohne.

So viele Erwartungen wurden gehegt, dass mir angst und bange wurde. Ich bangte um die Königin und den König, dass sie nicht enttäuscht würden, ich bangte um den fremden jungen König, dass seine Suche nach seiner Frau nicht etwa scheitere, ich bangte um den Grafen, dass ihn all die Erwartungen nicht gleich erdrücken würden.

«Ihr seid bleich geworden», sprach mich der alte Mann an, «freut Ihr Euch denn nicht?»

«Nein, ich bin verzagt, dass alles nur Lug und Trug ist», gestand ich ihm, «weshalb sollte ich eine Geschichte erzählen, welche dann Wahrheit wird? Es sind Märchen! Hirngespinste! Das sind doch keine Tatsachen! Das alles wird doch nicht real, nur weil ich meinen Eingebungen gefolgt bin und diese schilderte!»

«Aber, aber», schalt der alte Mann mich, «Ihr habt zu viel zu viele Selbstzweifel. Ihr müsst an Eurem Selbstvertrauen arbeiten, meine Liebe! Ihr dürft Euch entschieden mehr zutrauen.»

Da ertönten von Ferne Fanfaren.

«Er kommt! Der Graf kommt! Wir sehen ihn inmitten der Kundschafter!», tönte es von allen Seiten.

Ich blieb wie erschlagen sitzen. Das konnte nicht sein. Oder doch? Schlug sich nicht einst – vor mehreren Tagen erst – ein Graf durch das Dickicht zu uns ans Ufer des kleinen, lieblichen Sees, just gerade dann, als ich von ihm, dem Grafen, erzählt hatte? Dass er auf der Such nach der weissen Hirschkuh war, stimmte, sogar sein Name war korrekt.

Ein Tumult brach aus, alle eilten vors Schloss, um den Ankommenden zu begrüssen. Sie schwenkten farbige Tücher, sie lachten und jauchzten laut vor Freude.

Ich sass immer noch stumm und starr da. Wie paralysiert. Der alte Mann, der mein Gemüt besser zu erkennen schien, wie ich, schenkte mir aus einer dunkeln, staubigen Flasche ein Glas ein.

«Das ist ein alter Armagnac. Der wird Euch guttun, sodass Ihr wieder auf die Beine kommt!»

Unter Jubelgeschrei schritt der junge Graf durchs Tor, schritt geradewegs auf die Königin und den König zu, die majestätisch auf ihren Thronen sassen, kniete sich nieder und sprach: «Verehrte Königin, verehrter König, ich freue mich, bei Euch angekommen zu sein und ich bedanke mich dafür, dass Ihr mich willkommen heisset. Es ist mir eine grosse Ehre. Ich soll Euch dieses kleine smaragdene Büchslein übergeben, gnädige Königin.»

Mit diesen Worten überreichte er der Königin das Büchslein, aus einem einzigen grünen Smaragd geschliffen, darin die winzige Perle lag, die erste Träne, wie wir wissen, die Lisa, nachdem sie zur Welt kam, geweint hatte. Die Königin ergriff mit zittrigen Händen das kleine Büchslein, öffnete es und brach zusammen.

«Holt einen Arzt!» wurde gerufen, aber da war bereits Berta zur Stelle, mit einem Duftfläschchen, das hielt sie der Königin unter die Nase, worauf diese aus ihrer Ohnmacht erwachte.

Einige der anwesenden Leibgarde hatten die Ohnmacht der Königin offenbar falsch verstanden, glaubten, der Graf hätte ihr etwas Schädliches gegeben, und wollten diesen festnehmen. Doch Berta wehrte sie beherzt ab.

«Wir müssen los. Der Graf muss uns den Weg zur alten Frau zeigen», das war die aufgeregte Königin.

Worauf der Graf erbleichte: «Woher wisst Ihr von der alten Frau?»

«Die Märchenerzählerin hat uns alles haargenau erzählt, wie Ihr die Last der Alten getragen habt, die sich zuletzt auf Euren Rücken setzte und Euch antrieb, als wärt Ihr ein Lastesel und kein junger Graf!», das war Anni.

«Die Märchenerzählerin?», fragte der Graf verwundert.

«Dort drüben sitzt sie auf der Bank unter dem schönen Apfelbaum!», das war jetzt Kathi.

Da erhob sich der Graf, kam zu aller Verwunderung auf mich zu, machte einen höflichen Knicks und sprach: «Wir haben uns getroffen am See. Wahrhaftig. Und diese beiden jungen Damen, ähm, Prinzessinnen, haben von meiner Suche nach der Hirschkuh gewusst und meinen Namen gekannt. Doch sagt: Wer seid Ihr, dass Ihr alles wisst?»

Ich verschluckte mich, bekam dann einen Schluckauf und darauf einen Lachkrampf. Sollte ich mich nun freuen? Nein, ich bekam Angst. Bisher war mein Märchen ein Märchen gewesen, obwohl Vieles – wie sagte der alte Mann einst? – merkwürdig verschlungen war. Aber ich hatte das Märchen selbst nie so richtig ernst genommen, es mehr als eine Art Spiel betrachtet. Plötzlich lag so viel Verantwortung auf mir. Mir schauderte.

«Geht es Euch nicht gut?», fragte mich da der junge Graf aufrichtig besorgt.

Der alte Mann schenkte mir noch ein bisschen Armagnac nach.

«Sie ist eine Märchenerzählerin und ist erstaunt, dass sich ihre Erzählungen als Wahrheiten entpuppen», erklärte er dem jungen Grafen.

Kathrin, ich erspar dir das gesamte Hin und Her, das danach folgte. Hier nur die Kurzform: Die Königin wäre am liebsten sofort abgereist, desgleichen der König wie auch der fremde, junge König. Der junge Graf fühlte sich geehrt, dass er den König und die Königin zur alten Frau führen durfte. Der Stein würde ihm ja den Weg weisen. So nahm er jedenfalls an.

Aber Berta intervenierte vehement: «Nichts da, zuerst müsst Ihr einen Umtrunk nehmen und eine kleine Zwischenverpflegung. Bis Ihr fertig seid, sind auch die Kutschen bereit.»

«Die Kutschen? Es ist ein schmaler Weg, dem wir folgen müssen, mit der Kutsche kommen wir nicht durch!», das war der junge Graf.

«Die Kutschen nehmt Ihr, solange es mit der Kutsche möglich ist. Die Pferde nehmt Ihr, solange ein Durchkommen hoch zu Ross möglich ist. Erst dann geht Ihr zu in Gottes Namen Fuss. Die Leibgarde wird Euch begleiten!», das war die gute, pragmatische, umsichtig denkende Berta.

Wir erfreuten uns abermals über die all die köstlichen Speisen und den erlesenen Wein. Danach versammelten sich die Abreisewilligen, die Kutscher, Diener und die berittene Leibgarde vor dem Tor des Schlosses, auch die Zuschauer fanden sich ein. Eigentlich alle, die wir ihm Schloss zu Hause waren oder hier irgendwie im Dienst standen.

Dann geschah das Unglaubliche. Der Zauberstein, der dem Grafen den Weg gezeigt hatte, blieb schwarz. In welcher Richtung der junge Graf auch ging, der Stein blieb schwarz. Die Königin nahm den Stein in die Hand: Schwarz. Der König nahm den Stein in die Hand: Schwarz. Der Stein ging reihum, der Kutscher, die berittene Leibgarde, die Kundschafter, sogar bei Anni und Kathi blieb der Stein schwarz. Erst als der junge König den Stein in die Hand nahm, da wurde dieser lebendig und glänzte, ja leuchtete in reinstem, hellstem Weiss.

– 18 – Am Brunnen

Der vermaledeite Zauberstein wollte den jungen Grafen nicht mehr führen, wie es schien. Es schien sogar, als wäre der Stein ganz und gar unbrauchbar. Alle hatten ihn durchgetestet, in die Hand genommen, mit dem Stein in der Hand etwas herumgegangen, nur beim jungen König ... alle schauten verwundert und ratlos zugleich zum jungen König hin, in dessen Hand der Stein im weissesten, hellsten Glanz leuchtete.

Der junge Graf schüttelte den Kopf: «Was soll ich nur tun? Ich kann Euch, meine teure Königin, verehrter König, unmöglich zur Alten im Wald führen, denn ich bin ein Tollpatsch und verirre mich unentwegt. Nur durch diese, meine Gabe, die Orientierung zu verlieren, habe ich die alte Frau getroffen und erhielt von ihr das smaragdene Büchslein, das mir Glück bringen würde, und diesen Stein, der mich zu Euch führte, aber für mich nun nutzlos ist.»

«Das wissen wir doch», unterbrach ihn Anni, worauf der junge Graf sie verwirrt anschaute.

«Das Märchen! Wir haben der Märchenerzählerin gelauscht, weshalb wir wissen, dass Ihr geschickt darin seid, Euch zu verirren», klärte ihn Kathi auf.

«Ach ja, die Märchenerzählerin. Ich kann mich nicht daran gewöhnen, dass ihr alle hier alles von mir wisst. Dass eine Märchenerzählerin von meinem Leben erzählt, und zwar so, dass wie es sich in Tat und Wahrheit zugetragen hat», er schüttelte ungläubig den Kopf, «Aber wie soll es denn nun jetzt weitergehen? Wie finde ich ohne die Hilfe des Steins den Weg zur Hütte der Alten? Ich bin sehr ratlos, muss ich sagen.»

«Das ist doch ganz einfach!», jubelte Anni, «Der junge König führt Euch zum Häuschen, wo seine Frau und sein Söhnchen ihn sehnlichst erwarten. Von dort aus ist es ein Katzensprung zur Hütte der alten Frau mit den Gänsen und der Trulle.»

Jetzt gab es kein Halten mehr. Die Kutschen wurden beladen, die Satteltaschen gefüllt, in die Kutsche eingestiegen und auf die Pferde gestiegen. Es ging los. Ein ganzer Tross zog los.

Wir, das Publikum, schauten dem Konvoi nach, bis er hinter einem der lieblichen Hügel verschwand. Nach und nach scharten wir uns unter dem Apfelbaum zusammen.

«Kommt, meine Liebe, Ihr sollt uns weitererzählen!», forderte mich der alte Mann auf.

«Ja, erzählt weiter!», rief es ringsum.

Es war mir nicht wohl bei der Sache. Ich spürte die Erwartungen der Zuhörerschaft. Es müsste sich alles schlussendlich zu einem guten Ende fügen. Ich war jedoch meinen Eingebungen ausgeliefert, die ich weder steuern noch irgendwie manipulieren konnte. Ich hatte die Fäden nicht in der Hand. Das Märchen ist keine Marionette – habe ich das nicht schon einmal festgestellt? Ja, habe ich. Das Gegenteil ist der Fall. Ich bin hier die Marionette, von unbekannter Hand gesteuert und getrieben. Ach, seufzte ich innerlich. Wenn das nur gut geht.

So räusperte ich mich wiederum und begann zu erzählen:

Wir sind mitten im wilden Wald, genauer gesagt dort, in der Einöde, wo die Hütte der alten Frau auf einer ausgedehnten Heide steht. Es ist Abend, jedenfalls bereits dunkel. Die alte Frau sitzt in ihrer Hütte bei ihrem Spinnrad und spinnt. Ein Span brennt auf dem Herd und gibt ein spärliches Licht. Die Alte muss gute Augen haben, dass sie in dieser Düsternis unentwegt spinnt, ohne den Faden aus den Augen zu verlieren.

Da hört man draussen das heisere Geschrei der Gänse. Es ist die Trulle, die heute mit den Gänsen weit weg war, um eine saftige Weide zu finden, und jetzt zurückkehrt. Wir hören, wie die Stalltüre quietscht, das Geschnatter wird leiser. Vermutlich sind die Gänse jetzt im Stall und verstecken ihre Köpfe im Gefieder, um zur Ruhe zu kommen. Die Stalltüre quietscht erneut und kurz darauf erscheint die Trulle in der Hütte.

Trulle, grüssend: Guten Abend liebes Mütterchen.

Doch die Alte dankt ihr nicht, sagt ihr auch nicht guten Abend, wie wir es vielleicht erwarten würden, sie nickt dem Töchterchen nur kurz zu und spinnt weiter. Das Töchterchen setzt sich neben sie, nimmt ein zweites Spinnrad und spinnt so flink wie ein junges Mädchen. Sie spinnt einen Faden, der so silbern ist, wie das Mondlicht am Himmel. Nach einer guten Weile nickt ihr die Alte nochmals zu, und die Trulle nimmt irgendwo her einen Bausch irgendeines Materials. Ist es Wolle? In der Düsternis des Hauses kann man nicht erkennen, ob es Wolle ist oder Seide oder irgendetwas anderes. Es ist still, nur das leise Schnurren der Spinnräder ist zu hören. Es vergeht wieder eine gute Weile, da nickt die Alte ihrem Töchterchen erneut zu und diese ergreift einen weiteren Büschel eines anderen Materials. Sie spinnt flink und behände, doch jetzt glitzert der Faden wie die Sterne am Himmel.

Endlich raschelt etwas am Fenster und zwei feurige Augen glotzen herein. Es ist eine alte Nachteule, die dreimal 'uhu' schreit. Die Alte blickt nur kurz auf, in die Höhe, dann spricht sie: Es ist Zeit, mein Töchterchen. Steh auf und tu deine Arbeit.

Wohin geht sie nur, die Trulle? Sie geht in die Nacht hinaus, über die Heide in den Wald, immer weiter, bis sie den nächtlichen Teich erreicht. Dort äst die weisse Hirschkuh.

Trulle, die Hirschkuh streichelnd und tätschelnd: Ach, meine Liebe. Du wartest jeden Abend auf mich. Mir ist so bang, weisst du. Ich habe Angst, dass sich etwas ändert. Es liegt was in der Luft, etwas Unheimliches. Ich muss jetzt weiter, zum Brunnen im Tal, meine Arbeit tun. Hier nimm diese Birne, ich habe sie heute für dich gepflückt.

Mit diesen Worten eilt sie weiter, über Stock und Stein, durch Dickicht und Dornengestrüpp hinunter ins Tal, dort wo drei alte, mächtige Eichen stehen. Daneben befindet sich ein Brunnen. Der Mond geht in diesem Moment hinter dem Berg auf, so dass es hell wird, so hell, dass man eine Stecknadel finden könnte. Das Mädchen zieht eine Haut ab, die über ihrem Gesicht lag, und beugt sich über den Brunnen und beginnt sich zu waschen. Bald ist sie fertig. Jetzt taucht sie auch die Haut ins Wasser und legt sie dann auf die Wiese, damit sie im Mondschein wieder bleichen und trocknen soll.

Aber wie ist die Trulle verwandelt! So was habt ihr noch nie gesehen! Im Moment, wo der graue Zopf mit der Haut abgefallen ist, sind goldene Haare hervorgequollen, Haare wie Sonnenstrahlen, und breiten sich, als wär's ein Mantel, über ihre ganze Gestalt. Nur die Augen blitzen heraus, so glänzend wie die Sterne am Himmel, und die Wangen der Trulle schimmern in sanfter Röte, wie Apfelblühten.

«Das ist unsere Lisa!», entfuhr es Anni mit einem Aufschluchzen.

«Das muss unsere Lisa sein!», stammelte nun auch Kathi aufgewühlt, «ach, wären unsere Eltern da, dann wüssten sie, dass unsere Lisa das Töchterchen der alten Frau ist.»

Ein Getuschel und Geflüster ging durch meine Zuhörerschaft. Ich hörte Sätze wie: «Es muss Zauberei sein, die Alte ist eine Hexe!» Oder: «Nein, die Alte ist eine gute Fee oder gar ein Engel!» Und an mich gewandt: «Könnt Ihr nicht die Königin und den König jetzt im Häuschen eintreffen lassen?» Und: «Lisa ist ja nackt, das wäre ihr doch peinlich!» Ich: «Und wenn es nur ein Trugbild und nicht Lisa ist?» Viele: «Weiter, erzählt weiter!»

Der alte Mann schenkte mir ein Glas Wasser ein. Ich trank, bevor ich weitererzählte:

Das schöne Mädchen ist traurig. Es setzt sich nieder und weint bitterlich. Eine Träne nach der anderen dringt aus seinen Augen und rollt zwischen den langen Haaren auf den Boden. So sitzt sie und wird sicher noch lange sitzen bleiben, so gross scheint ihr Kummer zu sein.

Da knittert und rauscht es in den Ästen des nahestehenden Baumes. Das Mädchen spring auf wie ein Reh, das den Schuss des Jägers vernimmt. Der Mond wird just in diesem Augenblick von einer schwarzen Wolke bedeckt, und in diesem Moment ist das Mädchen in die alte Haut geschlüpft und verschwindet wie ein Licht, das der Wind ausbläst.

– 19 – Roadmovie

Liebe Kathrin. Ich hasse Roadmovies. Ich finde die Filme langweilig und ätzend. Es gibt keine wirkliche Handlung. Die Protagonisten sind einfach auf dem Weg, per Auto, Motorrad, zu Fuss oder per Autostopp. Sie reden viel, oder gar nicht, haben tiefsinnige Gedanken, oder gar keine, manchmal geht es praktisch nur um Musik, oder dann gar nicht. Ich hasse diese scheinbare Tiefgründigkeit der Suche und der Suchenden. Die Darsteller suchen die Wahrheit, oder sich selber, oder das Glück, oder die Freiheit. Ja, ich hasse Roadmovies und es macht langsam, aber sicher den Anschein, dass dieses Märchen sich zu einem veritablen Roadmovie entwickelt.

Doch kehren wir zu dem Punkt zurück, wo die Trulle im Wald, als sie sich in ein schönes Mädchen verwandelt hat – ihr wahres Selbst enthüllt – verzeih mir die Ironie – plötzlich ein Geräusch hört, die Haut rasch wieder überstreift – doch das sehen wir nicht, denn just in diesem Augenblick wird der Mond von einer schwarzen Wolke verdeckt, und die scheue Trulle verschwindet wie ein Licht, das der Wind ausbläst.

So weit so gut. Jetzt mischten sich meine Zuhörer ein.

«Wieso weint sie denn keine Perlen?», fragte Anni.

«Habt Ihr genau hingeschaut? Die Tränen sind doch gekullert, das sind keine wässrige Tränen, das müssen Perlen sein!», doppelte Kathi heftig nach.

Sie waren enttäuscht, alle beide. Was ich verstand. Auch ich war unzufrieden mit der Handlung.

«Konntet Ihr nicht eine klitzekleine Perle ausmachen? Der Mond hat ja geschienen, dass man eine Stecknadel hätte finden können!», Anni schien frustriert.

«Erzählt, wohin der Tross sich bewegt! Sind sie bereits bei der Königin mit den silbernen Händen angekommen?», lenkte uns der alte Mann ab.

Jetzt, liebe Kathrin begann der Roadmovie. Doch zuerst musste ich den Zuhörern etwas klarstellen.

«Ihr Lieben», begann ich, «ich bin eine Märchenerzählerin und keine Prophetin. Ich bin auch kein Adler, Milan oder Mäusebussard, die hoch in den Lüften kreisen und über eine grosse Distanz hinweg alles gestochen scharf erkennen können. Ich habe deshalb keine Ahnung, wo sich der Tross befindet, noch wohin er sich bewegt, noch ob sie am Ziel angekommen sind.»

Der alte Mann tätschelte mir die Hand: «Habt Vertrauen in Eure Gabe des Erzählens. Schliesst die Augen. Was seht Ihr?»

Ich schloss die Augen und sah. Aber es gefiel mir ganz und gar nicht.

Ich ergab mich meinem Schicksal und räusperte mich:

Der junge König hält den Stein fest umklammert in der Hand und gibt gewissenhaft acht, ob sich seine Farbe ändert oder nicht. Der Weg, den sie eingeschlagen haben, scheint jedenfalls der richtige zu sein. Bis sie zu einer Kreuzung gelangen. Die Berge befinden sich geradeaus, doch als sie geradeaus fahren, wird der Stein rabenschwarz.

Junger König: Halt! Das muss der falsche Weg sein!

Er steigt von der Kutsche, macht ein paar Schritte nach links. Der Stein bleibt schwarz. Dann ein paar Schritte nach rechts: Der Stein erglänzt im reinsten Weiss.

So schlägt man den Weg nach rechts ein.

Nach einer geraumen Weile Fahrt und Ritt und Schritten, wird der junge König etwas unruhig, wenn nicht besorgt.

Junger König, aufgewühlt: Der Stein bleibt zwar weiss, aber wir entfernen uns mehr und mehr von den Bergen und Wäldern.

Graf: Weiss jemand, in welcher Richtung wir uns bewegen?

König: Nach Osten, da wo die Sonne aufgeht.

Graf, nachdenklich: Nach Osten? Da wo die Sonne aufgeht? Lasst mich nachdenken. Mein Vater sagte mir oft, als ich noch ein Junge war: 'Wenn du nicht mehr weisst, wo du dich befindest, dann geh dahin, wo die Sonne aufgeht'. Ihr müsst wissen, unsere Grafschaft liegt an einem grossen See. Ich konnte mich folglich nur nach Westen, Nordwesten und Südwesten verirren. Mit einem Seufzer. Der Rat des Vaters nützt mir heute nichts mehr, denn ich bin derart ungeschickt, mich zu orientieren, meine Ungeschicktheit, wird zudem Jahr für Jahr schlimmer. Doch wenn Ihr sagt, wir würden uns in die Richtung bewegen, wo die Sonne aufgeht, dann werden wir unweigerlich zu meiner heimatlichen Grafschaft gelangen.

Und so geschieht es. Die ganze Reisegesellschaft mit Kutsche, berittenen Begleitern und all jenen, die den Zug zu Fuss begleiteten, gelangt zum Palast des jungen Grafen. Dort ist die Begeisterung und Freude riesengross, denn man hielt den jungen Grafen für verschollen.

Es sei ein Freudentag, meint der alte Graf frohlockend, und lässt für seinem Sohn und seine edlen königliche Begleiter ein Festmahl zubereiten, ja ein richtiges Bankett.

Wir wollen uns nicht länger aufhalten lassen, weder all die Höflichkeiten anhören, die ausgetauscht werden, noch die Reden, der alten Gräfin und des Grafen über die Heimkehr ihres verirrten Sohnes. Nein, wir springen gleich zum Aufbruch. Denn allen voran möchte der junge König möglichst rasch seine liebe Frau und seinen kleinen Sohn, die ja im Wald draussen in der kleinen Hütte sehnlichst auf ihn warten, in die Arme schliessen. Der alte Graf ist etwas enttäuscht, dass sein Sohn so schnell weiterreist. Seine Gemahlin fürchtet gar, dass sich dieser erneut verirrt, doch ihr Gatte tröstet sie, mit dieser wunderbaren Begleitung sei das kaum möglich. Ach, sie irren sich. Doch das weiss noch keiner.

Ja, die Abreisewilligen sind bereit, doch zur Überraschung aller bleibt der Stein schwarz.

Junger König: Vielleicht müssen wir das Prozedere wiederholen, um zu schauen, ob jemand unter uns erwählt ist, den Stein zum Leben zu erwecken.

Gesagt, getan. Aber der Stein bleibt bei allen schwarz, sogar bei der berittenen Leibgarde, sogar bei den Kutschern und Dienern, und Kammerzofen, bei allen, die den Tross begleiten. Was nun? Was tun?

Da hat die Königin eine Idee: Wenn jemand vom Grafenschloss den Stein beleben könnte?

Gesagt getan. Doch auch alle, die sich im Grafenschloss aufhalten, können den Stein nicht dazu bewegen, die Richtung anzuzeigen. Schon bereitet sich das Gefühl von Bedrücktheit und Misslingen unter den Anwesenden aus. Schon will man aufgeben.

Da fragt der junge Graf in die Runde: Gibt es denn ganz bestimmt niemanden hier, den wir übersehen haben?

Da mischt sich eine Küchenmagd ein: Doch, es gibt noch ein altes Mütterchen, welches in der Küche Handlangerdienste verrichtet, wie Gemüse wäscht und Karotten schält, aber diese verlässt die Küche nie.

Rasch wird das Mütterchen geholt.

Junger Graf, überrascht: Mütterchen, ich kenn Euch wohl.

Mütterchen: Ich weiss, mein Junge. Du hast mich vor langer Zeit wegen der weissen Hirschkuh gefragt. Hast du sie gefunden, mein Junge?

Junger Graf, gerührt: Ich habe sie zweimal gesehen. Bei einem kleinen Weiher, wo sie äste...

Mütterchen, aufgeregt: Wo der kleine Wasserfall plätschert?

Junger Graf, erstaunt: Ihr kennt die Stelle?

Mütterchen, in Gedanken versunken: Dort sah ich die weisse Hirschkuh einst...

Junger Graf: Ihr saht sie einst... Aber ich habe sie an einem anderen Weiher ebenfalls gesehen, sogar berühren können.

Mütterchen, gefasst: Dann muss die Trulle dich begleitet haben.

Junger Graf, perplex: Ihr kennt die Trulle?

Mütterchen, wie entrückt: Der Weiher dort ist verzaubert. Niemand kommt dahin, einzig die Trulle darf einem dorthin führen. Ihr müsst etwas Besonderes sein, dass die Trulle Euch in Ihr Herz geschlossen hat.

Junger Graf, nachdenklich: Sie ist abgrundtief hässlich, die Trulle, aber hat eine wundervoll melodische Stimme und blitzende Augen, wie Sterne.

Mütterchen, lächelnd: Wenn Ihr Euch nur nicht täuscht, lieber Junge. Die Trulle kann auch sehr hübsch sein... Aber das müsst Ihr selbst herausfinden.

Königin, energisch: Es tut mir leid, Euch zu unterbrechen, Mütterchen. Doch Ihr müsst den Stein in die Hand nehmen ...

Mütterchen: Ach, der Stein, der einem den richtigen Weg weist.

Junger Graf, sprachlos: Den kennt Ihr auch, den Stein?

Doch bevor er seinen Satz beenden kann, hat das Mütterchen den Stein bereits in die Hand genommen, worauf der Stein schneeweiss wird. Es bleibt ihr keine Wahl, sie wird gebeten mitzukommen, damit man den Weg zur Hütte – ach ihr wisst schon welche – findet.

Mütterchen, mehr zu sich selbst murmelnd: Es wurde geweissagt, dass mein Glück zurückkehrt, wenn dieser Stein weiss wird.

So ziehen sie von dannen. Das Mütterchen wurde schnell noch neu eingekleidet, denn mit der Küchentracht und Schürze kann sie nicht reisen, dazu braucht es erlesene Kleider, zumal sie in jener Kutsche mitfährt, in welcher die Königin, der König, der junge König und der Graf sitzen. Nebst Personal versteht sich.

– 20 – Die Müllerin

Ein neuer Tag bricht an, der ist so schön, dass ich es kaum fassen kann. Die Blüten des Apfelbaums im Hof, sind allesamt wie rosa durchgefärbt, ich könnte schwören, dass diese gestern bloss rosa angehaucht waren. Auch die Blüten all der vielen und vielfältigen Rosen scheinen grösser, voller und duften unbeschreiblich. Selbst die Farben der Tulpenblüten in den Rabatten sind kräftiger. Ich möchte hinaus, ich möchte mich an den Wegrand setzten, draussen vor dem Tor, auf die Wiesen und Getreidefelder blicken, und in die Ferne, wo kleine Seen in der Sonne blinken und in frühlinggrünen Wäldern Vögel ihre Jungen aufziehen... Stattdessen gehe ich in die Küche, wo es herrlich nach Kaffee riecht.

«Oh, da seid Ihr ja!», werde ich reihum begrüsst, «Wir haben auf Euch gewartet, wir wollen dringend wissen, wie die Reise weitergeht.»

Die Pflichten rufen. Adieu schöner Frühlingstag.

Doch dann habe ich eine Idee, einen Wunsch, den ich jetzt laut äussere: «Ich werde diesmal nicht unter dem Apfelbaum sitzend erzählen, wir wollen draussen ein Picknick veranstalten.»

Heute schwingen Berta und Magdalena das Zepter in der Küche und bald schon sitzen wir draussen vor den Schlossmauern, wohlversorgt mit allerlei belegten Broten, Kaffee, Kräutertees und Karaffen mit dem herrlich frischen Quellwasser. Wir sitzen auf Kissen, nicht auf dem blossen Boden, denn das ziemt sich nicht für die Prinzessinnen, so nehme ich es zumindest an. Es ist auch bequemer, muss ich zugeben, und der Tapetenwechsel tut mir gut, belebt mich. Ich bin so gut gelaunt, dass ich mich aufs Erzählen freue.

«Erzählt schon!», bedrängt mich da Anni.

Es ist immer Anni, die mit allem beginnt, fällt mir auf. Kathi scheint ihre Ideen aufzugreifen und zu präzisieren.

«Ja, erzählt schon. Wie ging die Reise weiter?», das war prompt Kathi. Ich muss lachen.

«Ja, wo waren wir denn nun?», überlege ich laut?

«Sie ziehen von dannen!», erläutert Anni.

«Das Mütterchen, das Handlangerdienste in der Küche macht, hält den Stein, der den Weg weist!», klärt mich Kathi auf.

Ich räuspere mich und erzähle:

Das Mütterchen sitzt mithin in der fahrenden Kutsche und ist überwältigt von der lieblichen Landschaft. 'Ich war so lange nicht mehr draussen, ich habe gar nicht mehr gewusst, wie lieblich das Land ist. Seit das Unglück geschah, habe ich mir diese Schönheit versagt', flüstert sie leise und schüttelt den Kopf.

Königin, aufmerksam: Seid ihr Wohlauf, Mütterchen?

Mütterchen, gefasst: Mir geht es gut, danke.

So fahren sie dahin, nach Westen erst, dann nach Norden, so wie es der junge Graf vermutet hat. Das Mütterchen hält den Stein und es ist ein Leichtes, den Weg zu finden. Sie kommen flott voran und nach einem halben Tag der Reise biegen sie in ein bewaldetes Tal ein. Das Mütterchen scheint aufgeregt.

Königin, behutsam: Was ist Euch, Mütterchen? Ihr scheint beunruhigt zu sein?

Mütterchen: Mein Herz klopft so stürmisch. Ich weiss gar nicht, wie mir geschieht.

So fahren sie weiter durch das Tal, einem sprudelnden breiten Bach entlang. Da beginnt das Mütterchen zu schluchzen.

Königin, besorgt: Was ist Euch Mütterchen?

Mütterchen, schluchzend: Ich kenne das Tal. Schon bald werden wir zu einer Mühle gelangen. Ach! Da habe ich ein grosses Unglück erlebt, dass ich niemanden Wünsche.

Der junge König, mitfühlend: Wollt Ihr erzählen?

Mütterchen, den Kopf schüttelnd: Verzeiht mir, junger König, aber was geschehen ist, war so schrecklich, dass ich es nicht fertigbringe, darüber zu berichten. Das Herz würde mir brechen. Nur so viel: Ich musste die Gegend verlassen, damit ich weiterleben konnte. Ich bin nie darüber hinweggekommen. Nie. Nur wenn ich in der Küche hantiere, das Gemüse wasche und zurechtschneide, dann lässt der Schmerz ein wenig nach.

Der junge Graf ist während des Berichts des Mütterchens blass und blasser geworden. Er kann plötzlich nicht mehr an sich halten.

Junger Graf, die Hände des Mütterchens umfassend: Ich denke, ich weiss, was Euch geschehen ist, und es tut mir so leid. Ihr müsst wissen, ich war schon einmal hier. Ich war sogar bei der Mühle.

Da beginnt das Mütterchen laut zu weinen an und kann nicht mehr aufhören. Die Königin streichelt und hätschelt sie, spricht leise, beruhigende Worte, wie zu einem Kinde.

«Das muss die Müllerin sein!», unterbricht Anni meinen Redefluss, «Erinnert ihr Euch an unsren Ausflug zum lieblichen See, wo wir dem Grafen begegneten, und Ihr demselben die Sage um den verarmten Müller erzählt habt?»

«Und der Graf ist dann auf dem Weg hierher zur Mühle gelangt. So wenigstens habt Ihr es uns erzählt. Der Stein hat ihm den Weg gewiesen», das war Magdalena, die Küchenmagd, und mit einem Seufzer, «die arme Frau, die arme, arme Frau!»

«Aber wir wissen ja, dass ihre Tochter am Leben ist und es Ihr gut geht, Dummerchen», tröstet sie Anni

«Erzählt endlich weiter!», fordert mich nun auch Berta auf.

Ich räuspere mich.

Der junge Graf umfasst nochmals die Hände des Mütterchens und sieht sie eindringlich an.

Junger Graf: Habt keine Sorge, Eurer Tochter geht es gut. Ein König hat sie geheiratet und ihr silberne Hände geschenkt. Durch Wirrnisse musste sie jedoch fliehen und lebt nun mit ihrem Söhnchen in einer Waldhütte, bewacht und beschützt durch einen Engel. Der gütige Gott hat ihre natürliche Hände nachwachsen lassen. Bald wird ihr Mann, der König sie finde.

Der junge König ist nun auch blass geworden.

Junger König zum Mütterchen: Ihr seid die Mutter des Mädchens ohne Hände? Ich bin nämlich Euer Tochter Ehegatte, und König. So seid Ihr demzufolge meine Schwiegermutter. Was mich sehr freut. Ich bin auf dem Weg zu meiner Gemahlin, die so lange getrennt von mir leben musste. Denn es gab Wirrnisse, Nachstellungen durch den Bösen, dass sie in den Wald fliehen musste. Es wurde geweissagt, dass ich bald bei ihr eintreffen werde.

Da beginnt das Mütterchen noch mehr zu schluchzen, hält die Hände des jungen Königs, aber alle wissen, es sind auch Freudentränen dabei.

Mütterchen: Weiss er...

Junger Graf: Ja, der Müller weiss Bescheid, ich habe ihm von Eurer Tochter erzählt. Denn ich bin ja selbst in ihrer Hütte gewesen und bin Eurer Tochter begegnet und habe auch Euren Enkel gesehen.

Das Mütterchen oder die Müllerin, sie ist ja beides in einer Person, greift sich ans Herz und schreit laut auf. Es ist, als ob sie ihren tiefsten Schmerz herausschreien würde. Sie schreit und stammelt, dankt Gott und weint zugleich. Dann wird sie wieder ruhiger, setzt sich aufrecht hin. Sie scheint grösser, gewachsen. Ihr Blick ist klar.

Doch je näher sie zur Mühle gelangten, desto mehr beginnt sie zu beben. Schon von Weitem sieht man den mächtigen Apfelbaum, der in voller Blüte steht, und von dem wir ja wissen, dass er sich hinter der Mühle befindet.

Als das Mütterchen ihn erblickt und bald das morsche, stillstehende Mühlenrad, glänzen Tränen in ihren Augen. Sobald sie sich dem heruntergekommenen Gebäude nähern, lässt der Kutscher die Pferde mit einem 'Brr' zum Stillstand kommen. Nun ist kein Halten mehr, das Mütterchen steigt aus der Kutsche und geht mit gemessenen Schritten auf das Wohnhaus zu. Da öffnet sich die Türe und der alte Müller tritt alsbald vors Haus, schaut auf seine Müllerin, die jetzt vor ihm steht, und die ihn vor langer, Zeit, als das Unglück geschah, dass er selbst verursacht hatte, verlassen hatte.

Die beiden stehen sich lange gegenüber. Tränen glitzern in beider Augen. Da geht die Müllerin vor und reicht ihm ihre Hände. Der Müller weint, es scheint, als könne er nicht mehr aufzuhören zu weinen. Es sind nicht nur Tränen des Schmerzes, sondern mehr und mehr ein paar Freudentränen dabei. Jetzt tritt er einen halben Schritt zur Müllerin hin, umfasst sie und sie weinen miteinander, bis die Tränen versiegen. Ich sehe sie lächeln. Sie lächeln sich an. Es wird alles gut, lächeln sie sich zu. Es ist alles gut, jetzt.

Ich schaue auf, an diesem wundervollen Frühlingsmorgen, blinzle in die Sonne. Schwalben fliegen fröhlich plappernd durch die Lüfte. Hoch oben kreist ein Milan. Meine Zuhörer sind still. Da und dort wischt sich einer eine Träne weg.

Da reicht mir der alte Mann ein Taschentuch. Erst jetzt bemerke ich, dass auch meine Wangen tränennass sind.

– 21 – Vom Finden der Liebsten

Ohne mich nochmals zu räuspern, fuhr ich mit der Erzählung fort. Ich wollte meine Zuhörer nicht weiterhin in ihrer herzzerreissend sentimentalen Stimmung belassen. Und ehrlich gesagt, mir knurrte der Magen.

So erzählte ich weiter:

Nach der versöhnenden und liebevollen Begrüssung führt der Müller seine liebe Gattin in den Hinterhof, dort wo er all die Jahre nicht nur den Apfelbaum wohl behütet und gepflegt, sondern auch einen grossen Gemüsegarten angelegt hatte. Die Müllerin stammelt 'oh' und 'ah', denn der Garten ist wahrhaftig eine Augenweide. Es gibt Rüben, Erbsen, Bohnen, allerlei Salate, Tomaten, Kartoffeln, und noch viel, viel mehr. 'Da hätte ich die grösste Lust zu ernten, und mal so richtig zu kochen', denkt die Müllerin überwältigt. Sie war zwar lediglich für Handlangerdienste im Palast des Grafen angestellt gewesen, doch sie ist eine grossartige Köchin. 'Es fehlen eigentlich nur noch ein paar gute Flaschen eines erlesenen Weins und ein wenig Fleisch', überlegt sie, 'dann könnte ich mich bei den königlichen Begleitern mit einem Festmahl bedanken.' Denn für sie ist klar: Hier wird sie bleiben.

Und so geschieht es denn auch. Im Nu sind Stühle und Tische im grossen Hof aufgestellt – dabei hilft die berittene Leibgarde – geerntet und gekocht – dabei helfen all die Küchenmägde, die mitreisen, und für die Verpflegung der Reisenden verantwortlich sind. Auch der erlesene Wein ist schnell gefunden, denn zu den Kostbarkeiten, die einst plötzlich in Kästen und Truhen lagen, gehörte auch ein Weinvorrat im Keller mit Spitzenweinen aus allen Herren Ländern.

Es ist eine fröhliche Tischgesellschaft, die jetzt im grossen Hofe hinter der Mühle sitzt, plaudert und isst. Einzig dem jungen Grafen ist ein wenig bange. Was, wenn ihm der Zauberstein nicht den Weg zur Alten im Wald und ihrer Trulle führt? Was, wenn der Zauberstein nicht mal den jungen König zur Hütte mit seiner lieben Frau und seinem Söhnchen führt? Was, wenn er sich verirren, und schlimmer noch, wenn er die Königin und den König in die Irre führen sollte? In derart sorgenvolle Gedanken versunken, nimmt er kaum wahr, welche vorzügliche Speisen, Salate, Gemüseeintöpfe, Brötchen, Kuchen und so weiter, er verspeist, ja er trinkt selbst den vortrefflichsten Wein, ohne ihn wirklich zu geniessen. Da reisst ihn ein Bimmeln aus seinen Reflexionen.

Junger König: Meine Königin, mein König, die Ihr mich bei Euch im Schloss aufgenommen und liebevoll aufgepäppelt habt, sodass ich wieder zu Kräften kam. Ich möchte Euch meinen allergrössten Dank aussprechen. Ich bin ein reicher Mann, nicht nur weil mir ein Königreich gehört, nein, ich habe dank Euch meine lieben Schwiegereltern gefunden und schätzen gelernt. Wenn wir heute abreisen und mich der Stein zu meiner lieben Frau und meinem Sohn führen wird, dann ist mein Glück vollendet. Ich bin zudem sehr glücklich, dass die Fügung oder das Schicksal durch diesen Zauberstein es wollte, dass die Müllerin und der Müller wieder vereint sind. Wir wollen darauf anstossen! Auch auf dass das Schicksal uns weiterhin wohl geneigt sei.

Applaus ringsum. Aber jemand, ist es die Königin oder die Müllerin, oder vielleicht der Graf, der oder die nachfragt, welche Wirrnisse es denn wären, welche den jungen König von seiner Frau getrennt hätten, sodass letztere in der Einsamkeit eines undurchdringlichen Waldes habe Zuflucht finden müssen?

Der junge König nun stehend, in die Runde blickend: Meine liebe Gattin stand kurz vor der Niederkunft, da wurde ich ins Feld gerufen.

Müllerin, hellhörig: Ins Feld?

Junger König: Ja, es herrschte Krieg und deshalb musste ich ebenfalls ins Feld ziehen. Ich bat meine Mutter, meiner schwangeren Gattin bei der Niederkunft beizustehen, und mir sofort zu berichten, wenn das Kind geboren sei. So kam es denn auch. Meine Frau gebar einen Sohn, meine Mutter schrieb mir darüber, allein der Bote, der mir den Brief übergeben sollte, wurde unterwegs müde und legte sich am Ufer eines Flusses zur Ruhe nieder. Der Teufel nahm den Brief und tauschte ihn aus. Einen hässlichen Wechselbalg hätte meine liebe Gattin geboren, stand in dem Brief. Ich war sehr betrübt und schrieb zurück, meine Mutter solle beide gut behüten und pflegen bis ich zurückkäme. Der Bote schlief bei derselben Stelle wieder ein. Der Teufel vertauschte wiederum die Briefe. So erhielt meine Mutter meine vermeintliche Anweisung, sie solle meine Gattin und das Kind töten und zum Beweis Zunge und Augen meiner lieben Gattin aufbewahren. Meine Mutter war verzweifelt. Eine solche Härte und Unbarmherzigkeit kannte sie nicht von mir. Auf keinen Fall wollte sie unschuldig Blut vergiessen. So schickte sie einen Jäger aus, eine Hirschkuh zu schiessen und ihr deren Zunge und Augen zu bringen. Meine Gattin schickte sie mit den Worten 'Du musst jetzt fortgehen und niemals wieder hierher zurückkehren' fort. Aber ein Engel, so wie wir jetzt wissen, hat meine liebe Gattin behütet, zur besagten Hütte geführt, wo sie seither lebt und mich jetzt sehnlichst erwartet. Mit einem tiefen Seufzer: Verzeiht mir, aber mich drängt es endlich zu meiner Frau weiterzureisen.

Die Königin plagen rabenschwarze Gedanken. 'Noch hat der junge König weder die besagte Hütte gefunden, noch ist er bei seinem Weib', denkt sie, 'noch haben wir nicht den geringsten Anhaltspunkt, wo sich Lisa befindet, noch ob sie am Leben ist. Einzig das kleine smaragdene Büchslein haben wir. Was, wenn ein Händler durch den Wald kam und das Büchslein der Alten zum Tausch anbot, dann kann auch sie uns nicht weiterhelfen. Was, wenn die Alte vielleicht eine Hexe ist, die dem Händler das Büchslein gestohlen hat? Was, wenn wir einer Mär hinterherjagen?' Ihren letzten Gedanken wagt sie nicht zu denken, nämlich: 'Was, wenn Lisa längst gestorben ist?'

Königin, mit königlicher Würde: Ich freue mich sehr, Zeugin geworden zu sein, wie Ihr, meine verehrte Müllerin und Ihr, mein verehrter Müller, wieder vereint seid. Doch nehmt es uns nicht übel. Wir sind auf der Suche nach unserer geliebten Tochter Lisa, die vielleicht hier im Wald irgendwo herumirrt... ihr gebricht die Stimme, dann mit neuem Elan und energisch: Deshalb wollen wir uns jetzt verabschieden und weiterreisen.

Sie brechen auf. Der Stein ist jetzt in des jungen Königs Hand, denn nur bei diesem wird er wiederum weiss wie Schnee, sofern sie sich in der richtigen Richtung bewegen. So fahren und reiten, und gehen sie flott dahin, der Weg ist nach wie vor breit und die königlichen Herrschaften können bequem in der Kutsche sitzend weiterreisen.

Nach einer geraumen Weile zeigt der Stein, dass sie nach rechts abbiegen müssen. Der Weg ist hier schmaler und steiniger, die Kutsche rumpelt mit Holper und Gepolter dahin, bis der Weg so unpassierbar ist, dass sie anhalten müssen.

König: Hier ist kein Weiterkommen. Wir müssen die Pferde nehmen.

Gesagt getan. Zu Pferd geht es jetzt weiter, doch nicht lange. Da weist der Stein, dass sie nach links abzweigen müssen. Doch hier gibt es weder Weg noch Steg. Hier gibt es nichts als dichtes Gebüsch. Was nun? Was tun?

Königin: Wir gehen zu Fuss weiter. Die Leibgarde und ein paar wenige Küchenmägde sollen mitkommen, jedoch nur die kräftigsten und jüngsten unter ihnen, und ein wenig Proviant sollen sie mitnehmen.

Gesagt getan. Jetzt schlagen sie sich durch das Dickicht, der Weg geht bald hügelan, bald hügelab. Sie durchqueren Bäche, umgehen sumpfige Stellen, dann führt sie der Stein wieder hügelan. Steinig ist der Weg jetzt, die Steine kullern unter ihren Füssen zurück, sodass sie nur mühsam vorwärtskommen. Die Königin und jene Küchenmägde, die mehrheitlich in der Küche standen und nicht an lange mühsame Fussmärsche gewohnt sind, ächzen und stöhnen ob des steilen und beschwerlichen Anstiegs.

Graf, mit Entzücken: Diesen steilen, steinigen Weg kenne ich! Auf diesem steinigen Weg habe ich einst die Last der Alten, den prallvollen Sack mit frisch geschnittenem Gras und die Körbe mit Früchten hinaufgetragen. Zu guter Letzt setzte sich die Alte noch obendrauf. Ja, dieser Weg kommt mir sehr bekannt vor. Wir werden geradewegs zur Hütte der Alten geführt. Schwärmerisch: Bald erreichen wir eine Anhöhe, von welcher wir auf eine ausgedehnte Heide blicken werden, wo Preiselbeeren und Heidelbeeren und Heidekräuter gedeihen, und wo der Alten Hütte steht.

Bald jedoch will der Stein, dass sie unbedingt nach rechts abzweigen. Was ist zu tun? Den Grafen drängt es, den Weg nicht zu verlassen, die Königin ist skeptisch. Auch der König möchte am liebsten auf dem steinigen, steilen Weg bleiben, doch was, wenn sich der junge Graf täuscht? Sagt dieser nicht von sich selbst, er hätte ein grausiges Geschick darin, sich zu verirren? So spricht er ein Machtwort: Man solle jenen Weg einschlagen, auf dem der Stein hell bleibe.

Gesagt getan. Hier ist der Wald womöglich noch dunkler, das Dickicht womöglich noch dichter. Mühsam schlagen sie sich durch die Büsche. Als der junge König, der allen voran geht, schon glaubt, es sei kein Weiterkommen mehr, da öffnet sich der Wald und er blickt auf eine herrlich blühende Waldwiese, wo sich mittendrin eine Hütte befindet. Instinktiv weiss er, dass er sein Ziel erreicht hat. Und wahrlich: Da tritt die junge Königin aus der Hütte mit ihrem Sohne, der Engel bleibt noch eine Weile neben ihr, dann löst er sich in Licht auf, entschwebt. Der junge König eilt zu seiner Gattin, schliesst sie und seinen Sohn in die Arme. Sie lachen und weinen zur selben Zeit. Die Kohorte mit der Königin, dem König, dem Grafen und der Leibgarde und den Küchenmädchen bleibt ein wenig abseits.

König, drängend: Wir wollen weiter. Sie haben ihr Glück gefunden, nun wollen wir uns aufmachen, unsere Lisa zu finden.

Junger Graf: Der Stein! Ohne Stein könnten wir uns verirren.

Aber wie soll ich's sagen. Der jung König hat den Stein nicht mehr. Vielleicht hat er ihn der Freude, seine Liebsten zu umarmen, fallen gelassen, er hat nicht darauf geachtet. Vielleicht hat er den Stein bereits losgelassen, als ihm klar geworden ist, dass er sein Ziel erreicht hat. Zwar gibt es einige Steine um die Hütte, wo die junge Königin mit ihrem Sohn so lange gelebt hatten, aber welche Steine sie auch auflesen, schwarze, graue, weisse. Ihre Farbe bleibt unverändert. So ein Pech.

Ein junger Mann der Leibgarde, zuversichtlich: Wir haben unseren Weg durch das dichte Gesträuch ja bahnen müssen. Da wird der eine oder andere Zweig abgebrochen sein. Wir finden den Rückweg zum steilen Weg bestimmt. Lasst mich vorausgehen, ich habe eine Ausbildung als Pfadfinder, ich bin geübt darin, mich in ungekannten Gefilden zu orientieren.

Junger Graf, zweifelnd: Dämmert es nicht bereits? Da wird es schwierig sein, abgebrochene Äste zu erkennen.

Königin, aufgeregt: Ihr könnt recht haben, aber auch nicht. Wer weiss. Doch ich dulde keine weitere Verzögerung. Selbst wenn wir im Dunklen weitergehen sollten: Wagen wir es! Verabschieden wir uns geschwind von dem jungen Königspaar und ihrem Kind. Wir müssen aufbrechen, sofort!

– 22 – Irrwege

Manchmal ist es schwierig, ein Ende zu finden, ich meine mit dem Erzählen. Doch an jenem Tag, als ich mich gleich zweimal zum Erzählen hinreissen liess, war es nicht schwer. Nicht nur mir knurrte der Magen, nein, wir alle waren äusserst hungrig, weshalb niemand mich drängte, die Geschichte weiterzuerzählen.

Manchmal ist es schwierig, einen Anfang zu finden. Jetzt beispielsweise. Jetzt, wo ich, wie beinahe täglich, alles, was hier geschieht und erzählt wird, für dich, meine liebe Kathrin aufschreibe. Denn an ebenjenem Abend, auf dem Rückweg von der Wiese zum Schlosshof gingen mir so viele Dinge durch den Kopf, dass ich ganz durcheinander war. Ich hatte nämlich den Eindruck, dass ich etwas übersah, etwas überaus Wichtiges. Aber ich kam einfach nicht drauf, was es sein könnte. Es war mehr ein Blitzgedanke – ein 'Aha' – das ich nicht fassen konnte, wie die Schnur eines Luftballons, der einem entwichen ist, und nach der man noch schnell aber vergeblich zu haschen sucht.

Ich musste an den Grafen denken, dessen Geschichte ich spontan erfunden hatte, und dann trat er leibhaftig in Erscheinung, um jetzt wieder nur eine Figur meiner erdichteten Erzählung zu sein. Verwirrend ist zudem, dass ich jetzt Handlungen realer Menschen erzähle, über den König und die Königin, über den jungen König, der einst schwach und ausgezehrt hier ankam, und jetzt – nur von mir ausgedacht? – seine Liebste gefunden hat.

Mit dem ersonnen Grafen hat sich auch jene Mär in mein Märchen eingemischt – fast möchte ich sagen, eingenistet – die ich doch gar nicht erzählen wollte. Sie hat sich mit meiner Geschichte verflochten und durch und durch durchdrungen. Mehr und mehr kamen mir Zweifel, was ich denn eigentlich ursprünglich erzählen wollte. Und mehr und mehr überfiel mich die Angst, dass ich alle Fäden verloren hätte und keinen mehr finden könne.

Nein, Schluss mit diesen abgründigen Grübeleien.

An jenem Abend also hakte ich mich beim alten Mann ein, hegte meine abgründigen Gedanken und so schlenderten wir zum Schlosshof zurück, wo – oh Wunder – der Tisch bereits gedeckt war. Die Küchenmannschaft hatte sich offensichtlich von meiner Erzählung inspirieren lassen, denn mit Erstaunen betrachtete ich ein Vielerlei an Salaten, Gemüseeintöpfen, frisch gebackene Brötchen, Kuchen, Torten und so weiter. Es waren dieselben Speisen, welche die Müllerin zum Dank gekocht hatte. In meiner Geschichte.

Es dämmerte, Knechte zündeten Fackeln an, welche die Wege des Schlosses flackernd beleuchteten, Küchenmägde brachten Kerzen, die sie auf den Tisch stellten.

«Ihr wart vorhin tief in Gedanken versunken», bemerkte der alte Mann, als er mir ein Glas des tiefroten, beinahe schwarzen Weins einschenkte.

«Ja, ich musste über Vieles nachdenken, aber jetzt freue mich auf all die Köstlichkeiten hier.»

Ich griff zu, genoss die knackigen Salate, die wohlschmeckenden Gemüseeintöpfe, strich herzhaft Butter auf ein herrlich duftendes, knusprigen Brötchen, ass zuletzt ein Stück Schokoladekuchen mit Sahne und zwinkerte dabei Kathi zu, die ebenso ein Schleckmaul ist wie ich. Und der Wein! Selten habe ich einen so wundervollen Wein genossen. Er war im Mund überraschend zart, ich schmeckte Johannis- und Himbeeren, aber auch frische Kräuter wie Thymian.

Schon überkam mich Müdigkeit, da ertönte ein mir bekannter Zuruf: «Könnt Ihr nicht noch ein wenig weitererzählen? Wir können doch den Grafen, den König und die Königin nicht so allein im Wald herumirren lassen!»

«Wer sagt denn, dass sie herumirren?», das war Kathi.

«Ah, ja, der Pfadfinder der Leibgarde! Den habe ich ganz vergessen!», das war Anni.

Der alte Mann schaute mich mitfühlend an. Ich nickte ihm zu, froh, dass zumindest einer merkte, dass ich eigentlich viel zu schläfrig war. Ich räusperte mich:

«Gut, aber nur ein kleines Bisschen, ich bin müde.»

Dann begann ich zu erzählen:

Der Pfadfinder findet tatsächlich Zweige, die abgebrochen sind. Das ist die Spur, hier sind sie durchgegangen. Und so durchqueren sie das Dickicht Schritt für Schritt, bis der Pfadfinder abrupt anhält.

Königin: Warum der Halt?

Pfadfinder, den Kopf schüttelnd: Hier führen zwei verschiedene frische Spuren weiter.

König, neugierig: Das kann nicht sein. Habt Ihr eine Vermutung?

Pfadfinder, nachdenklich: Entweder war das ein Mensch, der in derselben Richtung unterwegs war wie wir – ich sehe das, weil die Zweige nicht einfach gebrochen sind, sondern zu uns hin abstehen, versteht Ihr, was ich sagen möchte? Egal – oder ein Tier.

König: Ein Tier?

Pfadfinder, den Kopf schüttelnd: Die Zweige befinden sich etwas niedriger als meine Schultern. Das Tier müsste also etwa diese Höhe haben. Ein Reh vielleicht? Ein Bär kann es nicht gewesen sein, Bären haben eine breitere Statur. Wölfe und Füchse sind kleiner. Wildschweine wiederum sind breiter und ebenfalls nicht so hochgewachsen.

Königin: Was nun?

König: Ich schlage vor, wir nehmen jene Spur, die leicht ansteigt.

So pirschen sie sich eine ganze Weile weiter durchs Unterholz. Aber den Weg zu finden, wird durch die einbrechende Dunkelheit immer schwieriger. Als sie zu einer kleinen Lichtung gelangen, beschliessen sie, die Zelte aufzuschlagen und zu übernachten. Gesagt getan.

Bis die Königin fragt: Wo ist eigentlich der Graf?

König: Er hat die Nachhut übernommen.

Königin, erschrocken: Aber er ist nicht hier! Wir haben ihn verloren!

König: Wir wussten ja, dass er sich schnell verirrt, doch dass er uns nicht zu folgen vermag, wundert mich doch sehr.

Ja, was ist bloss los mit diesem jungen Grafen? Soll er sich tatsächlich verirrt haben? Nein. Er hat sich gezielt und sehr leise von der Gruppe wegbewegt, weil er ein silbernes Licht wahrgenommen hat. Er hat sich gedacht: 'Das muss die weisse Hirschkuh sein, die so hell schimmert, und wo die Hirschkuh ist, ist vielleicht die Trulle nicht weit weg. Wenn ich erst die Trulle gefunden habe, spaziere ich mit ihr zu der Alten Häuschen. Gedacht, getan. Deshalb hat er sich bedachtsam davongeschlichen, und keiner hat' s gemerkt.

Der jung Graf folgt dem schimmernden, hellen Licht in der Ferne, doch dieses scheint sich von ihm fortzubewegen. Wie er es auch anstellt, er kommt dem silbernen Leuchten nicht näher. Sein Weg führt bergauf und bergab, über Bäche und durch sumpfige Stellen. Zum Glück scheint der Mond so hell, sonst würde sich der junge Graf nasse Füsse holen. Da hört er ein Rauschen und plötzlich sieht er den kleinen Weiher, wo er die weisse Hirschkuh zum erstes Mal sah.

Urplötzlich erinnert er sich an das alte Mütterchen, die in der Küche des Grafenpalastes handlangerte, und wie sich dann später herausgestellt hat, eine Müllerin ist. Aber dieses Mütterchen hat ihm einst gesagt – war es vor wenigen Tagen erst? – der Weiher, der andere Weiher nicht dieser hier, der andere, wo die Trulle abends oft hingeht und badet, und der weissen Hirschkuh oft einen Leckerbissen bringt, dieser Weiher sei verzaubert. Nur die Trulle könne einem dorthin führen. Mutlos lässt er sich auf einen grossen Felsbrocken nieder. Sein schöner Plan hat sich gerade in Luft aufgelöst.

Wie gelähmt, streift er noch eine geraume Weile durch den Wald, vielleicht sogar die halbe Nacht lang, sucht sich dann einen mächtigen Baum, um in dessen dichten Geäst einen Schlafplatz zu finden. In dem Moment, wo er gerade an einer alten Eiche hinaufklettert, da glaubt er eine vertraute Stimme zu hören, eine melodische, sanfte. Er steigt behände vom Baum herunter und schleicht sich näher. Da vorne, da liegt ein Weiher vom Mondlicht sanft beleuchtet, und da ist auch die Trulle, die sich an die Hirschkuh lehnt, als ob diese ihre innigste Freundin sei. Er bleibt hinter einem dicken Stamm versteckt, hört nur zu.

Trulle, traurig: Meine liebe Hirschkuh, du. Mir ist so bang. Es wird etwas geschehen, ich spüre es. Mein Mütterchen verhält sich so seltsam in letzter Zeit. Komm ich abends müde nach Hause, dann nickt sie mir nur zu, sagt nicht danke, nicht guten Abend Töchterchen, wie sonst, sondern spinnt weiter, als wäre ich Luft. Nun hat auch der Nachtkauz zum zweiten Mal durch das Fenster geglotzt und laut 'uhu' gerufen. Das ist ein schlechtes Omen. Mir ist, als wären meine Tage hier gezählt. Ach, ich habe so trübe, wirre Gedanken in letzter Zeit. Du bist die einzige, der ich immer alles erzählen kann. Jetzt muss ich aber weiter. Ich soll meine Arbeit tun, hat mein Mütterchen mich geheissen.

Und mit diesen Worten springt die Trulle davon, wie ein Reh, dass scheinbar schwerelos über Gebüsch und Dornen hüpft. Der junge Graf versucht ihr verzweifelt zu folgen, verirrt sich gnadenlos, bis er plötzlich aus dem Wald kommt, vor ihm das Häuschen der Alten und der niedrige Stall. Es geht alles so schnell, wie der eine Gedanke, der ihm durch den Kopf geht, und in seinem Kopf hin und her rollt, ihn bis in die Träume verfolgen und am nächsten Tag der erste sein wird, denn er zu denken vermag: 'Weshalb muss die Trulle mitten in der Nacht arbeiten, wenn sie doch den ganzen Tag die Gänse hütet?' Dann klopft er an die Türe der Alten.

Alte Frau, die Türe öffnend: Nanu? Ihr hier? Ich habe Euch erst in ein paar Tagen erwartet. Ihr sucht bestimmt einen Schlafplatz. Die Decke liegt noch auf der Futterkiste. Ihr kennt den Weg. Verzeiht mir, ich bin eine alte Frau, ich muss mich wieder hinlegen. Sagt' s und schliesst die Türe zu.

Mit diesen Worten beendete ich meine Erzählung. Denn jetzt war auch ich so richtig schlaftrunken.

Kurz und gut, in dieser Nacht habe ich fest und tief geschlafen, so tief, wie der übermüdete Graf auf der Futterkiste im Gänsestall. Der war so müde, er konnte sich nicht einmal mehr über das seltsame Verhalten der alten Frau wundern.

– 23 – Begegnungen

Es ist noch früh. Noch liegt flauschig lieblicher Nebel über den Feldern, der sich bald auflösen wird. Ich bin auf dem Weg zur Küche. Nicht nur wegen des Kaffees, ich möchte mit der neuen Küchenmagd sprechen, ihr mein Kompliment machen für das wundervolle Nachtessen gestern.

Doch beim Hinweg zur Küche trifft mich eine Erkenntnis, vielmehr ich sehe plötzlich die Handlung wie sie weitergeht.

Der junge Graf erwacht, weil sich die Türe öffnet und sich morgendliches Tageslicht in den Gänsestall ergiesst. Er blinzelt und sieht die Trulle, die überrascht unter der Türe steht.

Halt, denke ich, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Mir hört mir ja gar niemand zu. Die Zuhörerschaft fehlt! Ich stehe mitten auf einem Weg zwischen einer blühenden Kräuterwiese und einer der Rabatte mit Kartäusernelken, Steinnelken und Färberginster. Halt!

Doch die Geschichte, die Handlung, die ich jetzt sehe, geht einfach weiter. Ohne mein Zutun, ohne dass ich sie verhindern oder aufhalten könnte. Sie bemächtigt sich meiner mit voller Kraft. Überwältigt mich, mir wird schwindelig, schnell setze ich mich auf eine der Bänke, die da und dort an den Wegrändern stehen, um dem Kopfkino zuzugucken.

Trulle, erstaunt: Ihr hier?

Junger Graf: Ich habe mich gestern Nacht, oder heute Nacht vielmehr, hierher verirrt. Euer Mütterchen hat mich angewiesen, im Stall zu übernachten.

Trulle, zögernd: Na, dann werde ich mal die Gänse auf die Weide treiben.

Junger Graf, schüchtern: Ich bin immer wieder aufs Neue erstaunt, welche schöne, melodische Stimme Ihr habt.

Trulle, lächelnd: Ihr meint, zu meinem hässlichen Äusseren müsste meine Stimme etwa so krächzend sein, wie die eines schwarzen Raben?

Junger Graf, spöttisch: Oh, ich bin durchschaut! Dann ernsthaft: Ihr habt nicht nur eine klangvolle Stimme, nein Ihr habt auch wunderschöne Augen.

Trulle, lachend: Ach so genau habt Ihr mich schon gemustert, dass Ihr meine Augen bewertet?

Junger Graf, beschwichtigend: Nicht bewertet, liebe Trulle, bewundert.

Trulle, leise: Ihr sollt nicht so lange mit mir allein sein ...

Junger Graf, ihren Satz beendend: ... sagt Euer Mütterchen.

Trulle: Darum bringe ich jetzt die Gänse auf die Weide!

Junger Graf: Nein, geht noch nicht weg.

Trulle: Ich muss los.

Junger Graf, entschieden: Dann begleite ich Euch.

Der junge Graf faltet die Decke, auf der er geschlafen hat, akkurat zusammen, legt sie auf die Futterkiste, und eilt danach der schnatternden Gänseschar, die vor der Trulle dahinwatschelt, hinterher.

Junger Graf: Halt, ich möchte mit Euch mithalten!

Trulle, lächelnd: Dann beeilt Euch.

Junger Graf, scheu: Es ist seltsam, als ich Euch das erste Mal gesehen habe, bin ich über Eure Gestalt erschrocken.

Trulle, lächelnd: Weil ich so hässlich bin.

Junger Graf, etwas wagemutiger: Das stimmt. Doch jetzt sehe ich Euch und Ihr dünkt mich nicht mehr hässlich, ... oh, wie soll ich das nur ausdrücken? Natürlich sehe ich Euch, wie Ihr seid, also hässlich, aber ich fühle mich mit Euch vertraut, als ob ich Euch mein ganzes Leben schon kennen würde. Diese Vertrautheit überdeckt das Hässliche. Versteht Ihr, wie ich's meine?

Trulle, leise: Ich glaube Ihr müsst jetzt gehen.

Junger Graf, erstaunt: Weshalb? Schickt Ihr mich etwa fort?

Trulle, leise: Wie mein Mütterchen Euch bereits gewarnt hat.

Junger Graf, fragend: Ja?

Trulle, stehen bleibend und ihn betrachtend: Ihr dürft Euch auf keinen Fall in mich verlieben!

Junger Graf, vehement: Ich bin nicht in Euch ... Dann stockt er. Bleibt betroffen stehen.

Trulle, lächelnd: Ihr seid ja rot im Gesicht!

Junger Graf, stotternd: Wie könnt Ihr wissen, was nicht einmal ich selbst in Erwägung zog?

Trulle, leise: Dass Ihr drauf und daran seid, Euch in mich zu verlieben? Ist das Eure Frage?

Junger Graf, betroffen: Es stimmt. Ich weiss nicht weshalb, aber ich fühle mich in Eurer Nähe so wohl, so geborgen...

Trulle, neckisch: Ihr sucht eine Mutter, keine Frau!

Schweigend und in Gedanken versunken wandeln die beiden dahin, wobei die Trulle mit einer Gerte darauf achtet, dass die Gänse nicht etwa in den Wald entlaufen.

Junger Graf: Darf ich Euch etwas fragen?

Trulle, spöttisch: Nur zu!

Junger Graf: Empfindet Ihr etwas für mich?

Trulle, abwehrend: Darüber will ich nicht sprechen.

Junger Graf, etwas: So sagt schon!

Trulle, mit einem Seitenblick: Wie könnte ich nicht. Ihr seid wohlgestaltet...

Junger Graf, scherzend: Oh, Ihr schaut nur aufs Äussere!

Trulle: Weil Ihr mich nicht ausreden lässt.

Junger Graf: Dann lasst hören!

Trulle: Ihr seid wohlgestaltet, ein schöner, junger Mann eben! Ihr seid nett und wart immer freundlich zu mir. Ich habe mich bereits, als ich Euch das erste Mal sah, zu Euch hingezogen gefühlt. Ich fühle mich wohl in Eurer Nähe. Und nicht so hässlich, wie ich nun einmal bin.

Graf setzt zum Sprechen an: ...

Trulle, schnell: Nein, sagt jetzt nichts!

Junger Graf, nach einer Weile: Ich habe Euch gestern beim Weiher gesehen.

Trulle: Spioniert Ihr mir etwa nach?

Junger Graf, abwehrend: Da sei Gott vor! Nein, es war ein Zufall. Ich wollte mich soeben im dichten Geäst einer mächtigen Eiche zu Ruhe legen, da gewahrte ich das silberne Leuchten der Hirschkuh.

Trulle: Und ihr habt mich belauscht.

Junger Graf, zerknirscht: Ja, ich habe gehört, wie Ihr mit der Hirschkuh spracht.

Trulle: Und?

Junger Graf: Bitte erklärt mir: Ihr seid den ganzen Tag mit den Gänsen unterwegs, und dann sagt ihr der weissen Hirschkuh, Ihr müsst noch Eure Arbeit tun? Mitten in der Nacht?

Trulle: Da gibt es nichts zu erklären. Ich tue, was ich tun muss. Basta. Aber sagt mir doch, weshalb Ihr zur nachtschlafender Zeit noch durch den Wald irrt?

Junger Graf: Das ist eine lange Geschichte. Es hat etwas mit dem smaragdenen Büchslein zu tun, das mir Euer Mütterchen als Glücksbringer mitgab.

Trulle, erblassend und stammelnd: Mein Mütterchen hat Euch – Euch? – das Büchslein mitgegeben?

Junger Graf eifrig: Und es hat seine besondere Bewandtnis damit. Ich kam nach vielen Irrwegen zum Schloss des Königs und der Königin, die mich zu erwarten schienen. Jedenfalls wussten sie einfach alles über mich und was ich in letzter Zeit erlebt hatte. Es war unheimlich. Richtig gruselig. Die haben eine Märchenerzählerin dort ... ach, nein, das führt zu weit!

Trulle: Nun erzählt schon. Vor allem, was mit dem Büchslein geschah.

Junger Graf: Ich überreichte der Königin das Büchslein, und sobald sie es in den Händen hielt, wurde sie ohnmächtig.

Trulle, verhalten: Und der König?

Junger Graf: Es war ein drunter und drüber. Jedenfalls ist es so, dass der König einst seine jüngste Tochter verstossen hatte. Kurz darauf bereute er es sehr und suchte über Wochen Tag und Nacht nach ihr. Ach, ich Trottel! Fast hätte ich es vergessen zu erwähnen: Das Büchslein gehörte ebendieser Tochter, sie hatte es zu ihrem Geburtstag an ebendiesem Tag von ihrer Mutter, der Königin, erhalten. Ich meine jener Tag, als ihr Vater, der König sie verstossen hatte. Deshalb haben wir uns auf den Weg gemacht, die alte Frau, ich meine Euer Mütterchen, zu finden, damit diese uns sagen kann, woher sie das Büchslein hat. Der König und die Königin hoffen inständig, so ihre Tochter wiederzufinden.

Trulle, leise: Vielleicht will die Tochter nicht gefunden werden.

Graf, leise: Daran hat noch niemand gedacht. Der König und die Königin hegen den Verdacht, aber das sprechen sie nie aus, ihre Tochter sei vielleicht einem wilden Tier zum Opfer gefallen, einem Bären oder Wolf.

Inzwischen sind sie bei einer kleinen Waldwiese angelangt, wo die Gänse schnatternd weiden. Sie setzen sich nieder und die Trulle will nun die ganze Geschichte haarklein erzählt haben, was, wie wir wissen, eine gute Weile dauern kann. Als der junge Graf ihr erzählt, dass der Müller seiner eigenen Tochter die Hände abgeschlagen hatte, da weint die Trulle zum Erbarmen. Doch der Graf kann sie trösten, die Hände sind dem Mädchen ohne Hände inzwischen durch die Güte Gottes nachgewachsen und einen sie liebenden Gatten hat sie ebenfalls. Der Müller habe Tag und Nacht gebetet und sei nun wieder mit seiner Frau vereint. Und so weiter. Der Graf erzählt lange und muss sich manchmal wiederholen, denn beim Erzählen verliert er oft den Faden, als ob er sich in der Geschichte verirren und verlieren würde. Als er endlich zu Ende erzählt hat, da schnäuzt sich die Trulle.

Trulle, seufzend: Jetzt müsst Ihr gehen, mein Lieber. Ihr müsst den König und die Königin suchen und sie hierherbringen. Mein Mütterchen weiss bestimmt Rat. Vielleicht habt Ihr Recht und Ihr findet die Tochter durch mein Mütterchen. Darum geht und sucht die Königin und den König.

Graf, mit einem Kloss im Hals: Und wenn ich mich verirre, und nicht mehr zurück zu Euch finde? Ich wäre untröstlich! Und wie Ihr ja wisst, bin ich ein Meister des Verirrens.

Trulle, lächelnd: Ich gebe Euch drei Fadenknäuel mit. Es sind Zauberfäden. Wenn Ihr denn gar nicht mehr weiterwisst, dann haltet den Faden fest und lasst den Knäuel los und vor Euch herrollen. Der Knäuel findet den Weg zu dem Ziel, dass Ihr vom Knäuel wünscht. Gebt gut acht, dass Ihr die Wünsche nicht leichtfertig sagt.

Und damit langt sie in ihre Rocktasche und nimmt drei kleine Fadenknäuel heraus, die sind so fein gesponnen, dass man's kaum glauben kann. Der eine Knäuel leuchtet silbern wie der Mond, der zweite Knäuel golden wie die Sonne, der dritte glitzert wie die Sterne am Himmel. Der junge Graf verspricht der hässlichen Trulle, dass er die Knäuel bedachtsam brauchen und vor allem bestimmt zurückkehren wird. Sie verabschieden sich. Die Trulle mit glitzernden Augen, der Graf beschwingt und waghalsig zuversichtlich.

Fertig. Ende. Schluss. Ich erhebe mich zittrig von der Bank, auf der ich die ganze Zeit gesessen und der Geschichte atemlos gelauscht habe. Da entdecke ich den alten Mann, der mir gegenüber auf einer Bank sitzt, die Schere, mit der er die verblühten Rosenblühten abschneidet, neben sich.

«Sie haben sich ineinander verliebt, wer hätte das gedacht», stellt er lakonisch fest.

Ich starre ihn an.

«Ich meine, mit den Fadenknäueln wird er wohl zurückfinden. Wenn dann noch die Lisa gefunden wird... Ist Euch nicht gut?»

«Habe ich etwa laut geredet?», frage ich beschämt.

«Nun, laut und deutlich war's nicht. Ich hab mich auch gewundert, dass keine Zuhörer da sind, ausser meiner Wenigkeit.»

«Die Geschichte hat mich urplötzlich überfallen, niedergebeutelt», versuche ich zu erklären. Doch der alte Mann winkt ab.

«So seht Ihr auch aus. Niedergeschlagen. Kommt», fordert er mich verschmitzt lächelnd auf, «Ich bin sicher, Ihr wolltet eigentlich in die Küche, um einen starken Kaffee zu trinken. Kommt, ich begleite Euch.»

So sitze ich in der gemütlichen Küche des Schlosses, gebe mich den frischen, knusprigen Brötchen hin, trinke Kaffee und lausche dem alten Mann, welcher der gespannten Zuhörerschaft alles erzählt, was ich draussen im Garten – wie soll ich sagen – gesehen, oder gesehen und gehört habe?

- 24 – Am Brunnen

Ist es nicht so, dass jeder etwas anderes hört, sieht oder versteht? Das konnte ich nun beobachten, derweil ich ausgiebig frühstückte. Erstaunlich, was der alte Mann zur Begegnung des jungen Grafen und der Trulle laufend dazuerfand.

Die Trulle hat in der Version des alten Mannes, mit dem Grafen darüber gesprochen, dass sie beide nie ein Paar sein könnten, weil die Menschen sie in ihrer Hässlichkeit immer verstossen würden. Darum bleibe sie auch im Wald. Weil sie die Blicke der sich vor ihr ekelnden Menschen nicht ertrage. Er sei ein Graf, er müsse repräsentieren, da könne er kein Ungeheuer als Braut heimbringen. Auf den Einwurf der Zuhörerschaft, sie habe doch beim Brunnen ihre Haut abgeworfen und unter der Haut befände sich ein überaus schönes Mädchen, hat der alte Mann kurzerhand erklärt, dass dies nur in der Nacht geschehen dürfe und nur in der Abwesenheit jeglicher Menschen.

Schlagfertig ist er, der alte Mann. Obendrein blieben in des alten Mannes Fassung, der junge Graf und die Trulle beinahe den ganzen Tag zusammen auf der Wiese, plauderten und lachten zusammen und hätten den Gänsen zugeschaut. Erst am späten Nachmittag habe die Trulle den jungen Grafen fortgeschickt, mit einem bisschen ängstlichem Bangen und der Graf wiederum mit grosser, waghalsiger Zuversicht und voller Elan.

«Weiter! Erzählt weiter!»

«Ich kann nicht», erwiderte der alte Mann, «Ich bin kein Märchenerzähler, ich habe lediglich der Märchenerzählerin zugehört und euch berichtet, was ich davon noch im Gedächtnis hatte.» Jetzt lächelt er mir zu.

Da ist er ja gut weggekommen, der alte Mann, denke ich.

«Na gut, dann nehme ich den Faden wieder auf», ich räuspere mich:

Der junge Graf streift nun frohgemut durch den Wald, hält Ausschau nach der königlichen Eskorte. Was er jedoch nicht wissen kann, ist, dass die Königin und der König es in jener Nacht nicht lange im Zelt ausgehalten haben. Sie waren zu aufgeregt und konnten beide nicht schlafen. Da standen sie leise auf und beratschlagten draussen vor den Zelten, was zu tun sei, und kamen dann überein, dass sie auf eigene Faust das Häuschen der Alten suchen werden. Aber von dieser Wendung hat der Graf, wie gesagt, nicht die geringste Ahnung. Er sucht die Königin und den König, die in Begleitung der Leibgarde und der Küchenmägde durch den Wald ziehen. So viele Leute müssen einigen Lärm verursachen, glaubt er zu wissen, deshalb wird er sie bestimmt schon von Weitem hören.

Er hat unwahrscheinliches Glück. Anscheinend auf dem kürzesten Weg findet er die verwaiste und ratlose königliche Leibgarde sowie die Küchenmägde.

Junger Graf, sich suchend umschauend: Wo sind die Königin und der König?

Pfadfinder: Die sind auf und davon. Es muss in der Nacht gewesen sein. Jedenfalls haben wir ihre Spur verloren.

Junger Graf, verwundert: Habt ihr sie denn nicht gesucht, ich meine so richtig gesucht?

Pfadfinder: Ich habe ihre Spur gesucht, aber hier gibt es viel zu viele Wildwechsel.

Junger Graf: Und sonst habt ihr nichts getan?

Eine Küchenmagd: Wir haben laut nach ihnen gerufen.

Pfadfinder: Aber jetzt seid ja ihr da, zu unser aller Glück. Ihr seid unsere Rettung. Ihr könnt uns zur Hütte der Alten führen.

Junger Graf: Zuerst müssen wir die königlichen Herrschaften suchen.

Eine Küchenmagd: Aber nicht mehr heute Abend. Es dämmert bereits. Wenn es erst dunkel wird, dann haben wir keine Chance, den Weg zu finden.

Pfadfinder: Halt, wohin geht ihr denn?

Junger Graf: Ich gehe die Königin und den König suchen, was denn sonst?

Eine Küchenmagd: Und wir, was geschieht mit uns?

Junger Graf: Das ist nicht meine Sache und Sorge. Geht von mir aus zurück zu den Kutschen und Pferden. Den Rückweg werdet ihr wohl alleine finden.

Und so macht der junge Graf rechtsumkehrt und stapft davon.

Junge Küchenmagd, ernüchtert: So zieht er dahin.

Frohgemut streift der junge Graf durch den Wald, immer nach der Königin und dem König Ausschau haltend. Es geht wiederum bergan und bergab, durch Täler und über Waldwiesen. Die Zauberknäuel, die ihm den Weg zeigen könnten, die möchte er nicht gebrauchen. Noch nicht. Lieber durchforscht er das Gelände auf eigene Faust. Aber es wird bald schon stockdunkel. So sucht er sich wieder einen mächtigen Baum und findet – was für ein Zufall! – dieselbe mächtige Eiche, die er bereits einmal bestiegen hat, ohne aber zu merken, dass da gleich zwei weitere Eichen danebenstehen, und sich in deren Nähe ein Brunnen befindet. Der junge Graf klettert behände hinauf, sucht sich ein dichtes Geäst, das ihn zu tragen vermag und schlummert schon bald tief und fest.

Jetzt müssen wir jedoch einen kleinen Abstecher ins Häuschen der Alten tun, denn hier geschieht Absonderliches.

Wie gewohnt kommt nämlich Trulle mit den Gänsen nach Hause, schaut gut, ob auch alle wohlbehütet im Stall sind, und schliesst die Stalltüre. Dann öffnet sie die Türe zum Häuschen, nichts anderes erwartend, als dass ihr Mütterchen, wie jeden Abend, am Spinnrad sitzt und spinnt.

Das tut sie auch, aber es ist komisch. Das Mütterchen scheint nicht so recht bei der Sache zu sein. Irgendetwas stimmt da nicht.

Trulle: Was ist mit Euch Mütterchen?

Alte Frau: Ich spür's, meine Zeit hier ist bald um.

Trulle, erschrocken: Ihr könnt nicht fortgehen. Ich brauche Euch doch.

Alte Frau, tröstend: Für dich wird gesorgt sein, nur ...

Trulle, aufhorchend: Ja?

Alte Frau: Du bist mir ans Herz gewachsen, mein Töchterchen. Nie hätte ich gedacht, dass die Zeit so schnell vergeht!

Trulle, ängstlich: Ihr macht mir Angst. Seid ihr etwa krank?

Alte Frau, beruhigend: Nein, mein Kind. Es wird alles gut. Wenn es mir auch so vorkommt, es sei viel zu früh.

Da hört man plötzlich den Nachtkauz laut 'uhu' schreien.

Alte Frau: So tue deine Arbeit.

Trulle, besorgt: Und Ihr seid gewiss noch da, wenn ich zurückkehre?

Alte Frau: Ich werde hier sein. Jetzt beeile dich mein Kind und tue deine Arbeit.

Der jung Graf erwacht, weil ein Nachtkauz in seiner Nähe laut und eindringlich 'uhu' schreit. Es ist nicht mehr dunkel. Der Mond steht hell und voll am Himmel. Der junge Graf schaut sich um, und sieht, wie eine Gestalt den Berghang gegenüber herabwandelt. Ihm bleibt das Herz stehen. 'Diesen Gang kenne ich', denkt er, 'das muss die Trulle sein, auch wenn sie keine Gerte bei sich trägt.'

Die Gestalt nähert sich unweigerlich der Baumgruppe, wo der Graf hoch oben im dichten Geäste kauert, und beugt sich über den Brunnen, legt ihre Haut ab und wäscht sich. Die goldenen Haare fallen herab und bedecken das Mädchen wie ein Mantel. 'Mein Gott, ist sie schön, die Trulle, ich hab in meinem ganzen Leben noch niemals auf der Welt je so eine Schönheit gesehen!' Der jung Graf streckt entzückt den Hals vor, damit er sie besser betrachten kann. Er sieht sie unverwandt an, am liebsten möchte er sie stundenlang anblicken, so schön ist sie.

Hat er etwa den Hals zu weit vorgestreckt? Auf einmal bricht der Ast, auf den er sich gestützt hat und fällt mit einem Krachen hinunter. Im letzten Moment kann er sich festhalten, sonst wäre auch er hinuntergestürzt.

Sobald die Trulle das Knacken des Astes hört, hat sie auch bereits schon ihre Haut übergestreift und eilt leichtfüssig davon, als wäre sie ein Reh, und weil der Mond jetzt zugleich von einer dunklen Wolke verdeckt wird, ist allen neugierigen Blicken entschwunden. Der junge Graf steigt behände von seinem Baum herunter und eilt der Entschwundenen nach.

Zitternd wie Espenlaub erreicht die Trulle das Häuschen, wo ihr Mütterchen sie bereits vor der Türe erwartet. Die Trulle will ihr alles berichten, doch die Alte sagt: 'Sag mir nichts' und geht ins Haus. Doch sie setzt sich nicht wie üblich ans Spinnrad, sondern sie holt einen Besen hervor, und beginnt das Haus zu kehren.

Trulle: Was ist los? Warum putzt Ihr das Haus mitten in der Nacht?

Alte Frau: Es muss alles rein und sauber sein.

Trulle, in Panik: Aber Mütterchen, warum fängt Ihr in so später Stunde mit dem Kehren an? Morgen ist auch noch ein Tag!

Alte Frau: Welche Stunde haben wir denn, mein Kind?

Trulle: Es ist vor Mitternacht, aber elf Uhr ist sicher vorbei.

Alte Frau, ernsthaft: Denkst du nicht daran, mein liebes Kind, dass du heute vor drei Jahren zu mir gekommen bist? Deine Zeit ist aus, mein Töchterchen, wir können nicht zusammenbleiben.

Trulle, zu Tode erschrocken: Ich habe die ganze Zeit gespürt, dass etwas nicht stimmt, dass etwas vor sich geht. Ach, liebstes Mütterchen, wollt Ihr mich verstossen? Wo soll ich hin? Ich habe doch keine Freunde und keine Heimat, wohin ich mich wenden könnte. Betrübt: Ich habe immer alles getan, was Ihr von mir verlangt habt, und Ihr seid immer zufrieden mit mir gewesen. Mit einem Aufschluchzen: Bitte schickt mich nicht fort!

Die alte Frau aber möchte der Trulle nicht sagen, was ihr bevorsteht.

Alte Frau: Meines Bleibens ist nicht länger hier, wenn ich aber ausziehe, muss die Stube sauber sein. Deshalb halte mich nicht länger von meiner Arbeit ab. Und sei ohne Sorgen. Du wirst ein Dach finden, unter dem du wohnen kannst, und mit dem Lohn, den ich dir geben werde, wirst du mehr als zufrieden sein.

Trulle: Bitte sagt mir, was Ihr vorhabt.

Alte Frau, mitfühlend: Ich hab dir doch gesagt, du sollst mich nicht länger bei meiner Arbeit stören. Hör jetzt auf mit mir zu reden. Geh in dein Zimmer, nimm die Haut von deinem Gesicht und zieh das blauseidene Kleid an, das du mit dir gebracht hast, als du zu mir kamst und harre in deiner Kammer, bis ich dich rufe.

Inzwischen dämmert es. Der junge Graf sucht immer noch nach seiner Trulle, da sieht er von weitem zwei Gestalten wandeln. Es sind die Königin und der König, die haben von Ferne ein Licht erblickt und gehen darauf zu. Es ist – aber das wissen die beiden noch nicht – das Häuschen, wo die Alte mit Ihrer Trulle und den Gänsen wohnt. Da holt sie der Graf atemlos ein.

Junger Graf: Sie muss Eure Tochter sein!

Königin: Wer sie?

Junger Graf: Die Trulle!

Königin: Ihr meint die Hässliche? Die hässliche Tochter der Alten?

König, entrüstet: Unsere Tochter ist so schön, so ein schönes Mädchen habt ihr noch niemals in Eurem Leben gesehen!

Junger Graf: Ich habe soeben, vor einer Viertelstunde etwa, ein Mädchen gesehen, das ist so schön, wie ich niemals in meinem Leben und nirgends auf der Welt eine solche Schönheit je erblickt hätte.

Königin: Das könnte unsere Lisa sein. Doch wie kommt Ihr auf die verwegene Idee, es sei die Trulle?

Da erzählt Ihnen der Graf von seiner Begegnung am Brunnen, wie die Trulle ihre Haut abgestreift habe und ein Mädchen sei zum Vorschein gekommen, mit so goldenen, glänzenden Haare, als wäre diese lauter Sonnenschein, mit wundervoll schimmernden, blitzenden Augen, und Wangen, so fein, und so blütenrein, als wären es Apfelblüten.

Königin: Wahrhaftig. So, wie Ihr sie beschreibt ... Das muss sie sein. Das muss unsere Lisa sein!

König, betroffen zitternd: Mein Kind. Mein über alles geliebte Kind, das ich so unsäglich verletzt habe.

So wandeln sie voller Bangen, Vorfreude und Schaudern dem hell erleuchteten Häuschen des alten Mütterchens zu. Die Gänse schnattern bereits leise im Morgengrauen. Die Vögel des Himmels beginnen mit ihren Morgengesängen, die ersten Grillen zirpen, der Morgentau glitzert auf dem niederliegenden Gesträuch der Heide.

– 25 – Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar

In der Küche herrschte emsiges Treiben. Es wird geraffelt, geschnitten, geklopft, gebraten, geschmort und gebacken. Ich war so vertieft in die Erzählung, dass ich jetzt staunend die eifrig Betriebsamkeit erblickte.

«Erzählt doch bitte weiter!», das war jetzt wiederum Anni.

«Gibt es heute ein Festmahl?», fragte ich immer noch erstaunt über das eifrige Getue in der Küche zurück.

«Wir befolgen deine Anweisungen!», erklärte mir die neue Küchenmagd und nahm mir geschäftig meine leere Kaffeetasse und brachte sie zum Küchenjungen, damit er diese mit dem vielen ebenfalls schmutzigen Geschirr abwaschen konnte.

Irgendetwas störte mich in diesem Hochbetrieb. Es war der Gedanke, den ich bereits einmal nicht richtig zu fassen vermochte. Doch da stellte ein weiterer Küchenjunge kalten, erfrischenden Tee vor uns hin und schenkte diesen in die ebenfalls mitgebrachten, frisch gespülten Gläser ein. Wobei er mir zuflüsterte: «Erzählt weiter, das hilft uns bei all den vielen Vorbereitungen.» – Da war der nicht erhaschte Gedanke bereits flugs verflogen.

Es schien, als ob ich die Einzige sei, die nicht wusste, was da vor sich ging. Die nicht eingeweiht war. Oder doch? Erwarteten sie etwa die Prinzessin zurück? Die Prinzessin zusammen mit ihren Eltern, der Königin und dem König? Dem Grafen gar und der ganze Reisegefolgschaft? Wollten sie deshalb ein Festmahl, was sag ich, ein richtiges Fest vorbereiten?

«Jetzt macht es nicht so spannend. Wir wollen endlich hören, wie es weitergeht!», tadelte mich Kathi.

«Wer sagt denn, dass diese Geschichte sich so abspielt wie ich sie erzähle?», wagte ich einzuwenden.

«Ihr unterschätzt Euch, aber das habe ich Euch schon oft gesagt. Bisher haben sich all Eure Berichte als wahr erwiesen. Nur Ihr scheint Euren Eingebungen nicht zu trauen», massregelte mich der alte Mann und schenkte mir bernsteinfarbenen Armagnac in ein grosses, bauchiges Glas ein, «Dieser Armagnac werdet Ihr bei Euch nicht erhalten. Er wird aus nur in diesen Gefilden gedeihenden, autochthonen Trauben hergestellt», er sah meinen Fragenden Blick, «Armagnac ist edler als Cognac. Ihr müsst zuerst seine Farbe geniessen, dann den Duft mit der Nase erschnuppern, bevor Ihr einen kleinen Schluck trinkt, diesen jedoch in Eurem Mund eine Weile ruhen lässt, um so die ganze Fülle seines Aromas aufzunehmen. Erst dann schluckt ihn mit Bedacht. Das wird Eure Bedenken hoffentlich ein wenig vertreiben!»

Mir war mehr als unbehaglich. Was, wenn ich nun alle enttäuschte? Sie glaubten tatsächlich, dass ich durch mein fantasiegesteuertes Fabulieren, ihre innig geliebte Lisa zurückbringen konnte. Doch einmal mehr fügte ich mich meinem Schicksal, nahm die Last auf mich, wie einst das Mütterchen, und danach der junge Graf. Wie geheissen roch ich an der bernsteinfarbenen Flüssigkeit: Honig. Nahm einen kleinen Schluck in meinen Mund und liess ihn wirken. Unglaublich vielfältig und doch harmonisch zusammenpassend waren die Aromen, auch wenn ich keines der Aromen zu beschreiben, geschweige denn zu benennen vermochte. Jetzt schluckte ich den Armagnac hinunter. Wärme breitete sich in meinem Gaumen, der Speiseröhre und meinem Bauch aus. Ja, das tat gut. Ich fühlte mich beflügelt und gestärkt, und räusperte mich:

Das Mütterchen sitzt still an ihrem Spinnrad und spinnt. Sie guckt nicht nach rechts, noch nach links. Inzwischen ist ihr kleines Häuschen so gut geputzt, dass nirgends auch nur eine Stäubchen zu sehen ist, ganz so, als würden Nebelmännchen hier wohnen, die keinen Staub an ihren Füsschen ertragen.

Derweil nähern sich der junge Graf, die Königin und der König dem Häuschen. Sie sehen durchs Fenster und erblicken die alte Frau am Spinnrad. Ihre Tochter alias Trulle ist nirgends zu sehen. Endlich fassen sie sich ein Herz und klopfen leise ans Fenster.

Die Alte scheint sie erwartet zu haben, steht auch prompt auf und öffnet das Fenster.

Alte Frau, freundlich: Kommt nur herein, ich habe Euch erwartet, ich kenne Euch schon.

Sie treten in die sauber geputzte Stube ein.

Alte Frau: Den Weg hättet Ihr Euch sparen können, wenn Ihr Euer Kind, das so gut und liebreich ist, nicht vor drei Jahren ungerechterweise verstossen hättet. Ihr hats nicht geschadet, sie hat drei Jahre lang die Gänse hüten müssen. Sie hat nichts Böses dabei gelernt, sondern ihr reines Herz behalten. Ihr aber seid durch die Angst, in der Ihr gelebt habt, hinlänglich bestraft.

Jetzt geht sie zur Kammer, und ruft hinein: Mein liebes Töchterchen, komm heraus!

Die Kammertüre geht auf und Lisa, die Königstochter, tritt heraus in ihrem blauseidenen Gewand mit ihren goldenen Haaren und ihren leuchtenden Augen, und es war, als würde ein Engel des Himmels in die Stube treten.

Sie geht zu ihrem Vater und Ihrer Mutter, fällt ihnen um den Hals und küsst sie. Vor Freude weinen alle drei. Der jung Graf steht ergriffen neben ihnen, sodass auch ihm die eine oder andere Freudenträne über die Wange kullert.

Als Lisa den jungen Grafen erblickt, wird sie so rot im Gesicht, als wäre sie eine Moosrose, sie weiss gar nicht, wie ihr geschieht.

Graf, überwältigt: Meine liebste Trulle.

Lisa: Nennt mich Lisa.

Graf, mit glitzernden Augen: Jetzt könnt Ihr mit mir kommen, jetzt braucht Ihr keine Angst vor angeekelten Blicken zu haben. Nichts steht Euch jetzt im Wege. Keiner Kann Euch mehr Böses anzuhaben. Sagt es und kniet vor Lisa nieder: Wollt Ihr mit mir kommen, meine Liebe? Wollt Ihr Euer Leben in meiner Grafschaft verbringen, an meiner Seite ... als meine geliebte Gattin?

Lisa hält ihm ihre Hand hin, sodass er aufsteht, dann zieht sie ihn zu sich hin, umarmt ihn und flüstert ihm leise zu: Ja ich will. Ja ich möchte mit Euch den Rest meines Lebens verbringen.

Es ist verbrieft, dass der König sich danach bei seiner Tochter entschuldigt und es bedauert, dass er sein Königreich bereits Anni und Kathi vermacht hat. Doch das Mütterchen erklärt ihnen, dass Lisa reich sei. Sie, das Mütterchen, habe nämlich alle Perlentränen, die Lisa im Geheimen um ihre Eltern geweint habe, fleissig gesammelt. Es seien alles Perlen, die so kostbar seien, mehr als ein ganzes Königreich wert habe. Und zu diesem Lohn bekäme Lisa obendrein ihr Häuschen.

Wie sie das sagt, da knattert's im Gebälk, das Häuschen verschwindet, und wie sie sich umsehen, steht ein prächtiger Palast an jener Stelle, wo das Häuschen stand. Ein königliche Tafel ist bereits gedeckt und Bedienstete laufen emsig hin und her.

Es ist ebenso verbrieft, dass die Alte, oder das Mütterchen der Trulle, eine weise Frau ist, welche Lisa, als diese auf die Welt kam, die Gabe verliehen hat, anstelle von Tränen, Perlen zu weinen.

Sie hat Lisa bei sich aufgenommen, und durch die Zauberhaut in eine hässliche Trulle verwandelt, damit Lisa jemanden als Gemahl finden könne, der ihr Herz sieht und nicht auf ihr Äusseres achtet. Und genau das ist jetzt passiert. Der junge Graf hat sich in die Trulle verliebt, als er nicht wissen konnte, welch herrliche Schönheit unter der verunstalteter Gestalt verborgen war. Er hat das Wesentliche wahrgenommen, ihre Freundlichkeit, ihr reines Herz, ihr liebvoller Blick, die Vertrautheit, mit der sie sich begegneten. Er hat gesehen, was man nur mit dem Herzen sieht.

Ich schaute auf.

«Kommt Lisa jetzt nach Hause, oder bleibt sie für immer in ihrem Palast», fragte Anni ängstlich.

Ich räusperte mich und fuhr mit der Erzählung fort:

Nach einem ausgiebigen Festmahl stehen Kutschen vor dem Palast, um die Königin, den König, Lisa und den Grafen und die vierundvierzig Kammerzofen, die vorderhin Gänse waren, aufzunehmen und heimzufahren. Denn nicht nur die Heimkehr Lisas, sondern auch ihre Verlobung mit dem jungen Grafen muss daheim, in ihrem Elternpalast, gefeiert werden.

Ich schaute auf und um mich herum und mir ging ein Licht auf. Ach, darum das emsige Treiben! Sie glauben mir aufs Wort. Wenn das nur gut geht, und meine Erzählung sich nicht in Dunst auflöst.

Da ertönten Fanfaren und laute Rufe: «Die Kutschen kommen! Der König und die Königin sind zurück! Unsere Lisa ist nach Hause zurückgekehrt!»

Es war ein Drunter und Drüber. Ein Gerenne und Hasten, Ein Lachen und Jauchzen. Ich war froh, in der nun stillen Küche zu sein. Nur eine einzige Küchenmagd war noch zugegen, aber auch diese wischte sich schnell die Hände an der Schürze ab, bevor sie diese losband.

«Die Vorbereitung ist das Ah und Oh eines jeden guten Kochs, wie unsere Berta immer sagt», murmelte sie im Vorbeigehen.

«Berta!», rief ich aus, «Berta, Magdalena und Robin!» Da war er, mein Blitzgedanke, jetzt aber lag er klar und deutlich vor mir. Es war teuflisch und verwegen und lustig zugleich. Ich musste laut auflachen.

Der alte Mann lächelte mir verschmitzt zu: «Ihr werdet aber schweigen bis zum Schluss?»

«Oh, ja, das werde ich!», kommt, schenkt mir von diesem wunderbaren Getränk ein, «Ich muss erst meine Fassung wiedererlangen, bevor ich mich in die Festivitäten stürze.»

Am Abend wurde wiederum ein ausgiebiges Festmahl aufgetischt. Girlanden hingen in den Bäumen. Auf den Tischen standen Kerzen, die Wege waren mit brennenden Fackeln beleuchtet. Im Mittelpunkt der Festlichkeit stand die Verlobung von Lisa mit dem jungen Grafen.

In einem heimlichen Augenblick, als Lisa mit ihrem Verlobten durch den nächtlichen Schlosspark flanierte, flüsterte Lisa dem jungen Grafen zu: Wie soll ich dich nun nennen? Sebastian?»

«Ach weisst du, Sebastian ist mir verleidet. Du kannst dir einen meiner zahlreichen Vornamen aussuchen.»

«Die da sind?»

«Sebastian, Simon, Johann, Jonas, Leonhard, William, Vincent», zählte der junge Graf auf.

«Oh, das sind ja einige! Aber weisst du, am einfachsten ist es, wir nehmen deinen zweiten, mein lieber Simon, die anderen habe ich mir gar nicht erst gemerkt», neckte sie ihn.

Nach dem Essen versammelten sich alle feierlich um den Tisch. Das Eigenartige dabei war, dass sie mich anschauten.

Der König ergriff als erster das Wort: «Darf ich vorstellen?»

Und mit diesen Worten trat Lisa vor, verbeugte sich wie vor einem Publikum am Ende einer Vorstellung.

«Das ist unsere Magdalena als Lisa, und darf ich nochmals vorstellen?», fragte der König.

Jetzt trat der Graf vor. «Das wiederum ist unser begabter Küchenbursche Robin als junger Graf!», deklamierte der König mit einem Schmunzeln.

«Ist mir nochmals erlaubt vorzustellen?» Mit diesen Worten trat die gute Berta vor. «Das ist unsere treue Köchin Berta als die Alte und das Mütterchen», beschrieb der König die letzte der Hauptdarstellern.

Ich musste lachen, laut lachen und bekam einen Schluckauf.

Das Schöne dabei war: Die vor Freude strahlenden Schauspieler. Sie lächelten, klopften sich gegenseitig auf die Schultern, verbeugten sich – ausser Robin und Magdalen – beinahe hätte ich Lisa und der junge Graf Simon gedacht, so sehr sah ich sie in ihren Rollen – diese beiden standen etwas abseits und küssten sich lange und innig.

Ich schüttelte den Kopf und schmunzelte. Es war alles von Anfang an eingefädelt gewesen. Oder vielmehr, nicht von Anfang an. Ich erinnerte mich vage, dass Berta und Magdalena sich geäussert hatten, sie würden gerne auch einmal in einem Märchen mitspielen. Doch niemals, niemals hätte ich gedacht, dass sie mich derart gekonnt einwickeln und hinters Licht führen würden. Dass sie mir, allen voran der König und seine Königin, ein Schauspiel bieten würden und ich die Zuschauerin dabei sein würde. Hatte ich mich nicht über die mir allesamt unbekannten Töchter des Königsehepaars gewundert? Es gab keine Lisa, keine Anni und Kathi, keinen jungen Grafen, keine Alte alias Mütterchen. Es war Schauspielerei, Rollentausch allesamt.

Ich musste lachen, verschluckte mich, kriegte einen Schluckauf.

Und ich war das Publikum, das gleichzeitig erzählte und fabulierte. Und als Erzählerin bangte, dass ich meine Zuhörerschaft enttäuschen würde. Dabei waren der ganze Handlungsstrang und das glückliche Ende der Geschichte nicht von mir erfunden, sondern stand von Anfang an fest, oder eben beinahe von Anfang an. Oder ist es gerade umgekehrt? Haben die Schauspieler meine Erzählung nachgespielt? Oder haben sie gespielt und ich habe geweissagt? – Nein, es lohnt sich nicht, darüber zu mutmassen – wir befinden uns in fantastischen, zauberhaften Gefilden, wo nicht einmal Zeit und Raum sich an die physikalischen Gesetze zu halten brauchen.


Heute ist der letzte Tag, wo ich in diesem lieblichen, feenhaften Land, verweilen darf.

Es ist frühmorgens und ich sitze draussen, am Rande der Wiese, mit einer Kaffeetasse in der Hand und lasse mich von den ersten Sonnenstrahlen wärmen. Alles scheint so perfekt, so wohltuend stimmig. Ich möchte mich noch einmal so richtig sattsehen, die lieblichen Hügel betrachten, die in vielen bunten Farben blühenden Wiesen, die frühlingsgrünen Wälder und die da und dort in der Morgensonne glitzernden, kleinen Weiher. Ich möchte noch einmal all die vielfältigen Düfte einatmen. Der ätherische Geruch von Thymian gleich am Wegrand hier, die süssen Rosendüfte, der verhaltene Duft des weiss blühenden Yasmins.

Habe ich dich nicht zu Beginn gewarnt, meine liebe Kathrin? Dass das Märchen chaotisch und wirr sein würde? Ich die Fäden nicht in der Hand hätte? Wie sehr habe ich mich getäuscht! Es ist alles noch tausendmal verrückter und verworrener.

Ich liebe dieses liebliche Märchenland mit all seinen witzigen, vergnügten Bewohnerinnen und Bewohnern, die mich mit ihrem Schalk und Witz, mit ihrem Frohsinn und ihrer Lebenslust und Herzlichkeit immer wieder aufs Neue beindrucken.

Ade, du liebliches Land – und auf ein Wiedersehen im nächsten Jahr, Inshallah, so Gott will und ich den Weg hierher zurückfinde.

Das kommt der junge Graf, alias Simon, alias Robin angerannt und streckt mir einen der Zauberfadenknäuel entgegen.

«Hier, nehmt diesen einen mit Euch!», ruft er atemlos und sieht meinen fragenden Blick, «Damit Ihr den Weg hierher zurückfindet!»

Ich bin gerührt, genau das ist ja meine Sorge. «Ich danke Euch. Doch sagt, was tut Ihr mit den beiden anderen Knäueln?»

«Die habe ich gut verwahrt. Falls ich jemals meine liebe Braut verlieren sollte, so zeigen mir die Knäuel, wie ich den Weg zu Ihrem Herzen wiedererlangen werde.»

Adventsgeschichte 2023